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Lärmschutzvorschriften: Problematische Gerichtspraxis im Zusammenhang mit Lärmschutzvorschriften

Ersatzneubau Untere Winterthurerstrasse (120 Wohnungen), Ersatzneubau Brunaupark (500 Wohnungen) oder Neubau Im Bürgli (134 Wohnungen), dies sind einige prominente Beispiele zur strikteren Praxis der Gerichte in Bezug auf die Bewilligungsfähigkeit von Bauprojekten mit Blick auf die Einhaltung der Lärmschutzvorschriften. Die Bauherrschaften befinden sich seit längerer Zeit in Rechtsstreitigkeiten und die Projekte müssen schlussendlich wohl nochmals überarbeitet werden. Dies alles kostet Zeit, Geld und Nerven. Was ist geschehen und wie wirkt sich dies auf zukünftige Projekte aus, diese Fragen beleuchtet der nachfolgende Artikel.

10.11.2021 Von: Pascal Caduff
Lärmschutzvorschriften

Um was geht es denn genau?

Gesetzliche Grundlagen

Um seine Bürger*innen vor schädlichen oder lästigen Einwirkungen zu schützen, erliess der Schweizer Gesetzgeber in den 80er Jahren das Umweltschutzgesetz (USG). Dabei gilt als Einwirkung im Sinne des Gesetzes neben Luftverunreinigungen, Erschütterungen, Strahlen, Gewässerverunreinigungen oder andere Eingriffe in Gewässer, Bodenbelastungen, Veränderungen des Erbmaterials von Organismen oder der biologischen Vielfalt, auch der Lärm. Zusammen mit den in der Lärmschutzverordnung (LSV) festgehaltenen konkreten Ausführungsbestimmungen bildet das USG die Grundlage zum heutigen Lärmschutz.

Das USG hält in Art. 22 Abs. 1 fest, dass Baubewilligungen für neue Gebäude, die dem längeren Aufenthalt von Personen dienen, nur dann erteilt werden dürfen, wenn die Immissionsgrenzwerte nicht überschritten werden. Es sei denn, der Ausnahmetatbestand von Art. 22 Abs. 2 kann angewendet werden. Dieser besagt, dass Baubewilligungen bei Überschreitungen der Immissionsgrenzwerte erteilt werden können, sofern die Räume zweckmässig angeordnet sind und die allenfalls notwendigen zusätzlichen Schall­schutzmassnahmen getroffen werden.

So weit, so klar oder eben nicht.

Die LSV konkretisiert in Art. 31, dass eine Bewilligung bei Überschreitung der Immissionsgrenzwerten nur erteilt wird, wenn durch die Anordnung der lärmempfindlichen Räume auf der dem Lärm abgewandten Seite des Gebäudes oder durch bauliche oder gestalterische Massnahmen, die das Gebäude gegen Lärm abschirmen, die Grenzwerte eingehalten werden können. Wobei auch hier die Erteilung einer Ausnahmebewilligung möglich ist.

Wie die Bestimmungen im konkreten Fall genau auszulegen sind, war und ist nicht nur den Bauenden, sondern auch den Bewilligungsbehörden nicht immer vollständig klar.

Lüftungsfensterpraxis

Ein Teil der Kantone entwickelte im Zusammenhang mit den Lärmschutzvorschriften die sogenannte «Lüftungsfensterpraxis». Hierbei ging es um die Frage, ob Baubewilligungen aus lärmschutzrechtlicher Sicht erteilt werden können, wenn die Grenzwerte nicht an allen Fenstern lärmempfindlicher Räume eingehalten werden, sondern nur bei einem einzigen Lüftungsfenster.

Das Bundesgericht musste diese liberalere Auslegung auf ihre Bundesrechtskonformität prüfen und kam 2016 in seinem Urteil BGE 142 II 100 zum Schluss, dass die Lüftungsfensterpraxis nicht mit den gesetzlichen Bestimmungen vereinbar sei. Für die Erteilung einer Baubewilligung genüge die blosse Anordnung einzelner Lüftungsfenster auf der vom Lärm abgewandten Seite nicht. Gleichzeitig verwies das Bundesgericht auf die Möglichkeit der Behörden nach Art. 31 Abs. 2 LSV eine Ausnahmebewilligung zu erteilen.

Ausnahmebewilligungen

Durch die in der LSV vorgesehene Ausnahmebewilligung soll es möglich sein, die aufgrund der stetig wachsenden Bevölkerung notwendige und politisch deshalb gewünschte bauliche Verdichtung der Ballungszentren zu erreichen.

Eine Ausnahmebewilligung kann immer dann erteilt werden, wenn an der Errichtung des Gebäudes ein überwiegendes Interesse besteht und die kantonale Behörde zustimmt. Dabei ist das Interesse an der Realisierung des Gebäudes den Anliegen des Lärmschutzes gegenüberzustellen und gegen diese abzuwägen. 

So weit, so klar oder eben nicht.

Um den Bauherren einen Anhaltspunkt betreffend die konkrete Auslegung der Bestimmung bieten zu, entwickelten die zuständigen Behörden eine angepasste Praxis. So darf unter anderem pro Wohnung bei maximal einem Drittel der lärmempfindlichen Räume der Grenzwert an allen Fenstern überschritten werden (sog. «rote» Räume). Diese Räume müssen durch ruhige, lärmabgewandte Räume in der gleichen Wohnung und einem ruhigen Aussenraum kompensiert werden. Basierend auf den neuen Leitlinien wurden zahlreiche Projekte eingereicht und bewilligt. Wobei bei einigen Projekten gegen die Erteilung der Baubewilligungen Rechtsmittel ergriffen wurden.

Somit hatten sich wiederum die Gerichte mit der Problematik zu beschäftigen. Das Verwaltungsgericht Zürich hielt sodann in einem Urteil fest, dass es gemäss bundegerichtlicher Rechtsprechung nicht mehr reiche, wenn bei einem Bauprojekt einzelne Massnahmen für einen besseren Lärmschutz geprüft wurden. Vielmehr muss die Bauherrschaft in nachvollziehbarer und überzeugender Weise aufzeigen, dass alle verhältnismässigen Massnahmen für eine lärmtechnisch optimierte Bauweise geprüft wurden. Eine Ausnahmebewilligung kann erst dann erteilt werden, wenn nachgewiesen sei, dass sämtliche verhältnismässigen Massnahmen ausgeschöpft wurden. Somit komme die Gewährung einer Ausnahme erst als "ultima ratio" in Betracht.

Was bedeutet das konkret?

Sollte feststehen, dass die Immissionsgrenzwerte überschritten werden, so muss die Bauherrschaft im Rahmen eines Gutachtens ausführlich aufzeigen, dass alle verhältnismässigen Massnahmen von gestalterischen und baulichen Leistungen geprüft wurden.

Bauliche Massnahmen

Die Möglichkeit von Lärmschutzwänden oder –dämmen sind als bauliche Massnahme zu prüfen. Sie sind jedoch in Städten meistens keine valable Option, weil der benötigte Platz fehlt oder diese nicht ins Ortsbild passen.

Gestalterische Massnahmen

Gestalterisch muss geprüft werden, ob durch eine angepasste Gebäudeform oder einer Anpassung der Ausrichtung des Gebäudes zur Lärmquelle eine lärmschutztechnisch bessere Lösung erreicht werden könnte. Auch Änderungen an der Fassadengestaltung sind ins Auge zu fassen.

Im Rahmen einer optimierten Grundrissgestaltung sind lärmunempfindliche Räume wie Küchen, Nasszellen, Treppenhäuser etc. grundsätzlich auf die Strasse hin anzuordnen, während lärmempfindliche Räume wie Schlaf- oder Wohnzimmer sich ins Innere des Gebäudes orientieren sollten.

Bei all diesen Massnahmen muss der Bauherr in Kauf nehmen, dass es zu gewissen Einbussen hinsichtlich Gestaltung des Projektes kommen könnte.

Ersatzmassnahmen

Nicht als gestalterische und bauliche Leistungen gelten schalltechnisch optimierte Balkone, lärmabgewandte Lüftungsfenster oder alternative Belüftungsmöglichkeiten. Das Bundesgericht bezeichnet diese vielmehr als Ersatzmassnahmen zur Milderung der Auswirkungen der Grenzwertüberschreitungen. Solche Ersatzmassnahmen stellen nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung eine Voraussetzung für die Erteilung einer Ausnahmebewilligung im Sinne von Absatz 2 von Art. 31 LSV dar.

Beispiel Brunaupark

Nachdem das Baurekursgericht die Baubewilligung unter Berücksichtigung der neuen Praxis kassiert hat, wird das Bauprojekt von der Bauherrschaft nun unter Berücksichtigung der beanstandeten Aspekte überarbeitet. Dabei sollen Wohn- und Schlafzimmer auf die geschützte Seite verlegt, Treppenhäuser, Küchen und Bäder hingegen zur Strasse hin angeordnet werden, um den Lärmschutz in den Wohnungen zu verbessern.

Dokumentationspflicht

Wie erwähnt, muss die Bauherrschaft bei Einreichung des Baugesuchs in einem Gutachten konzis darlegen, weshalb die geprüften Alternativen nicht in Betracht kommen. Dabei muss das eingereichte Projekt den verworfenen Projekten gegenübergestellt werden und es muss im Einzelnen aufgezeigt werden, weshalb das eingereichte Projekt in der Interessenabwägung obsiegt hat. Insbesondere, weshalb beim konkreten Bauvorhaben unter lärmrechtlichen Aspekten das Optimum erreicht worden sein soll.

Massnahmen an der Lärmquelle

Neben Massnahmen am Bau kommen auch solche an der Quelle in Frage. Eine der Hauptlärmquellen in der Stadt ist der motorisierte Individualverkehr. Dabei kann ein lärmärmerer Belag oder eine Temporeduktion geprüft werden. Doch auch solche Massnahme sind nicht überall und ohne Nebengeräusche umsetzbar. Insbesondere ist unklar, inwiefern die Bauherrschaft solche Massnahme vom Träger der Strasse fordern kann.  

Was nun?

Die aktuelle Situation führt dazu, dass Projekte überarbeitet oder komplett neu geplant werden müssen. Zudem verbleibt bei Bauprojekten in Lagen mit überschrittenen Immissionsgrenzwerten eine rechtliche Unsicherheit betreffend Bewilligungsfähigkeit. Die Auflagen zum Nachweis einer Ausnahmebewilligung können zu einer Verlängerung von Bauprojekten und Verteuerung von Bauvorhaben führen. Im schlimmsten Fall wird städtebaulich sinnvolles Bauen an lauten Wohnlagen verhindert und alte, schlecht isolierte Gebäude bleiben bestehen.

Die Problematik wurde auch auf politischer Ebene erkannt, weshalb Vorstösse eingereicht wurden, um die Vereinbarkeit von Lärmschutz und sinnvoller Siedlungsentwicklung zu gewährleisten. Bis jedoch eine politische Lösung vorliegt, wird noch einige Zeit verstreichen. Bis dahin müssen sich Bauherrschaften und Behörden mit der strengeren Auslegung der Vorschriften durch die Gerichte arrangieren. 

Fazit zu Lärmschutzvorschriften

Bauen bei Immissionsgrenzwertüberschreitungen ist auch mit der Verschärfung der gerichtlichen Rechtsprechung weiterhin möglich. Es bedarf jedoch einer gründlicheren Abwägung der möglichen Optionen (insb. alternative Gebäudeformen, Fassaden, Grundrisspläne, Ausrichtung des Gebäudes) sowie einer sauberen und von Anfang an konsequent durchgezogene Dokumentation der abgewogenen Optionen. Dadurch kann in einem allfälligen Gerichtsverfahren aufgezeigt werden, dass beim eingereichten Projekt in lärmrechtlichen Aspekten das Optimum erreicht worden ist.  

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