Gefühle: Mit Achtsamkeit Gefühle navigieren

Was wenn unsere Gefühle kein Konstruktionsfehler der Natur sind, sondern eine wichtige Informations- und Kraftquelle für unser tägliches Leben?

10.11.2025 Von: Kathrin Jehle
Gefühle

Störfaktor Gefühl

Achtsamkeit und Gefühle werden oft miteinander in Verbindung gebracht, wenn es darum geht, sich selbst zu regulieren. Ich habe jahrelang versucht, meine Emotionen mittels Meditation und Atemübungen ‘unter Kontrolle’ zu bringen. Dies ist ein legitimer Ansatz. Mit Achtsamkeit verbinden sich oft auch Wünsche der Selbstoptimierung und der Effekt von Achtsamkeit auf die Emotionsregulation ist vielfach erwiesen. Dass wir damit an der ursprünglichen Idee einer Achtsamkeitspraxis vorbei schrammen, wird oft vergessen. Wenn wir uns einseitig auf Optimierungspotenziale fokussieren, verpassen wir die Chance, unsere Wahrnehmung bewusst zu vertiefen, insbesondere auch wahrzunehmen, was und wie wir eigentlich den ganzen Tag über fühlen. 

In meiner Mediationstätigkeit werden Gefühle oft als das störende Element wahrgenommen. Es drängt sich der Trugschluss auf, dass es besser wäre, sachlich zu bleiben, als in Wut oder Tränen auszubrechen. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass damit die emotionale Ladung und damit auch das Konfliktpotenzial bestehen bleiben. In den Gefühlen liegen wichtige Informationen für die Bearbeitung einer Konfliktdynamik. Nicht selten verdeckt das vordergründige Gefühl ein anderes Gefühl. Das Offenlegen der damit zusammenhängenden Bedürfnisse bringen oft mehr Verständnis in den Konfliktverlauf. Hilfreich, eine neue Sichtweise auf Gefühle und deren Ausdruck zu erhalten, ist das Modell der Taubheitsschwelle.

Neue Idee: Die Taubheitsschwelle

Gefühle sind in der Intensität zwischen 0 und 100 Prozent fühlbar. Im Alltag nehmen wir Gefühle aber häufig erst wahr, wenn sie bereits eine hohe Intensität erreicht haben. Dies führt dazu, dass sie als überwältigend und unangebracht erscheinen. Clinton Callahan, der Initiator von Possibility Management, beschreibt in seinem Buch «Die Kraft des bewussten Fühlens», dass dies mit der sogenannten Taubheitsschwelle zusammenhängt. Die Taubheitsschwelle hat die Funktion, Gefühle zu unterdrücken und nicht ins Bewusstsein zu lassen, so dass wir im Alltag ‘funktionieren’ können. In unseren Breitengraden ist davon auszugehen, dass die Taubheitsschwelle bei ca 70-80% liegt. Das heisst, Gefühle, die weniger intensiv sind, nehmen wir nicht wahr. Dies ermöglicht uns, den Schmerz der Welt (Kriege, Klimawandel ect.) auszublenden und auch in alltäglichen Situationen, die eigentlich untolerierbar sind, wie zum Beispiel sexistische Bemerkungen am Arbeitsplatz, so zu tun, als wären wir cool und unantastbar. Wenn im Verlauf des Tages ein Gefühl unbemerkt steigt, beispielsweise aufgrund ärgerlicher Vorkommnisse, kann es sein, dass es plötzlich in hoher Intensität spürbar wird und es zu einem ungewollt heftigen Ausdruck kommt. Dies ist auch der Fall, wenn ungefühlte Gefühle aus der Vergangenheit getriggert werden. Man spricht dann vom sogenannten Amygdala-Hijack: die Amygdala, das Alarmsystem in unserem Hirn, kidnappt quasi den Präfrontalen Kortex, so dass wir nicht mehr rational denken und handeln können. Das somatische System übernimmt die Führung und trennt sich vom kognitiv-verstandesmässigen System: der Puls steigt, die Atmung wird flach, es kommt zu Schweissausbrüchen. Es ist naheliegend, dass mit solchen Körperzustandsveränderungen Gefühle als destruktiv wahrgenommen werden. Der Grund liegt aber nicht darin, dass Gefühle naturgemäss destruktiv sind, sondern daran, dass ihre Informationen nicht genutzt werden, solange sie in einer handhabbaren Intensität fühlbar sind. Dies wiederum liegt an einer fehlenden Wahrnehmungs- und Fühlkapazität, mit Folgen nicht nur für die eigene Lebensqualität.

Als Kinder hatten wir einen natürlichen Umgang mit Gefühlen und drückten aus, was gerade ausgedrückt werden wollte. Bildlich gesprochen: Der Überdruck floss laufend ab. Durch Aussagen wie «Ein Indianer kennt keinen Schmerz» oder «sei nicht so zimperlich»  erkannten wir, dass unser Gefühlsausdruck nicht erwünscht ist. Wir entwickelten Strategien, um den unerwünschten Gefühlsaudruck zu verhindern und verstopften sozusagen den Abfluss und bildeten eine Taubheitsschwelle. Wenn es um das Überstehen von schwierigen Situationen geht, ist das sehr sinnvoll. Auch klar ist, dass Impulskontrolle eine nicht zu unterschätzende Fähigkeit ist. Wenn sich daraus aber ein starres Verhaltensmuster entwickelt, schränkt uns dies in unserer Handlungs- und insbesondere Beziehungsfähigkeit ein. Wir machen dann immer wieder ‘die gleichen Fehler’.

Achtsamkeit – zwei Seiten der Medaille

Als erwachsene Menschen sind wir darauf angewiesen, klare Signale aus unserem Innenleben zu erhalten, um unser Leben sinngebend zu gestalten und weise Entscheidungen zu treffen. Unbewusste Verhaltensweisen wie Ablenkung mit Social Media, Konsum von Rauschmitteln, kompensatives Essen, (übertriebener) Sport ect. sind Strategien, um die Taubheitsschwelle hoch zu halten und die sich meldenden Gefühle nicht zu fühlen. Auch Meditation wird oft dafür verwendet, sich abzulenken. Die Intension davon ist letztlich, eine Reduktion des Gefühlten. Sprich: die Intensivität der Gefühle unter die Taubheitsschwelle zu senken. Dass damit keine Ursachen bearbeitet werden, dürfte deutlich sein. 

Da sich viele Menschen im Alltag gewohnt sind, eine hohe Taubheitsschwelle zu halten, werden Gefühle selten bewusst gefühlt. Bewusstes Fühlen kann glücklicherweise trainiert werden. Zu üben, Gefühle ohne Grund, in einer sicheren Umgebung zu navigieren, ermöglicht es, im Ernstfall, mitzukriegen, was innerlich geschieht. Die Lücke zwischen Reiz und Reaktion wird grösser und es wird möglich, eine bewusste Entscheidung zu treffen, wie weiter vorzugehen ist. 

Damit wir Gefühle bewusst fühlen und sie als Information und Kraft nutzen können, ist es notwendig, die Taubheitsschwelle zu senken. Hier kommt die Achtsamkeit ins Spiel. Achtsamkeitspraxen können dann dazu dienen, nicht nur wahrzunehmen, was im physischen Körper oder dem intellektuellen Körper vor sich geht, sondern auch was gerade im emotionalen Körper aktiv ist. Ein so verstandener achtsamer Umgang mit Gefühlen bedeutet, sie willentlich und bewusst zu fühlen und zwar möglichst früh, wenn das somatische und kognitive System stabil zusammenarbeiten und die Information genutzt werden kann. Navigation heisst dann, die Aufmerksamkeit bewusst auf die Gefühle zu lenken und nicht aufgrund eines Überlebensmechanismus wegzudrücken. 

Das Märchen der Prinzessin auf der Erbse mag dies veranschaulichen. Die Aussage, «Du bist wie die Prinzessin auf der Erbse» wird landläufig eher so verstanden, dass man überempfindlich sei. Doch gerade diese Empfindsamkeit hat die Prinzessin als richtige Prinzessin ausgezeichnet. Ihre Taubheitsschwelle war so niedrig, dass sie in der Lage war eine Erbse unter all den weichen Matratzen zu spüren. Könnten wir also jegliche Gefühlsnuance wahrnehmen, ihre Information nutzen und in Kontakt bringen, hätten wir kaum mehr Konflikte. Wir hätten die Chance unsere Beziehungen zu vertiefen, indem wir auch mit unseren Gefühlen präsent wären. Die bewusste Absicht, Achtsamkeit zu kultivieren, macht den Unterschied.

Experiment: Halten Sie vor dem nächsten Griff zur Schokolade oder der Zigarette kurz inne und lenken Sie den Fokus auf Ihre Gefühle: Was ist gerade fühlbar? Welche Information steckt darin? Ergeben sich daraus neue Handlungsmöglichkeiten?

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