Jahresrechnungen: Wichtige Risikobereiche

Passende Arbeitshilfen
Einleitung
Eine rote Flagge («red flag») gilt als eine Warnung oder ein Risikoindikator, der auf ein potenzielles Problem oder eine Bedrohung im Zusammenhang mit den Finanzinformationen, den Jahresrechnungen oder den Nachrichtenberichten eines Unternehmens hinweist. Rote Flaggen können jedes unerwünschte Merkmal sein, das einem Analysten oder Investor auffällt, und verdienen die unbedingte Aufmerksamkeit derer, die als Anspruchsgruppen des betroffenen Unternehmens ein berechtigtes Interesse an dessen Entscheidungen und Aktivitäten haben.
Die im vorliegenden Fachbeitrag somit behandelten «Red Flags» beziehen sich vornehmlich auf die Jahresrechnungen von Unternehmen und gelten grundsätzlich grössen- und branchenunabhängig. Ergänzend werden spezifische Aspekte erläutert, die im Kontext von Start-ups häufig auftreten können.
Risikoindikatoren im Überblick
1. Inkonstante Erträge oder Aufwendungen
- typisches Risiko:
Plötzliche, unerklärliche Schwankungen bei Umsatz oder Kosten können sowohl bei etablierten Firmen als auch bei Start-ups auf Bilanzierungsfehler, rechtswidrige Verhaltensweisen oder fehlende Marktakzeptanz hindeuten. - relevante Kennzahlen:
- Umsatzwachstum (Revenue Growth Rate)
- Entwicklung wesentlicher Aufwandspositionen (z.B. Marketingausgaben, Personalkosten)
- Start-up-spezifisch:
Junge Unternehmen könnten in der Anfangsphase stark in Produktentwicklung und Marketing investieren, ohne entsprechende Umsatzerlöse zu generieren. Allerdings sollten die Aufwands- und Umsatzzahlen nachvollziehbar sein und sich konsistent mit dem Geschäftsmodell entwickeln.
2. Markante Änderungen bei Rechnungslegungsmethoden und Schätzungen
- typisches Risiko:
Eine abrupte Umstellung von Abschreibungsregeln, Umsatzerfassungsprinzipien oder Wertermittlungen ohne plausiblen Grund kann das Zahlenwerk verzerren. - relevante Kennzahlen:
- Abschreibungssätze (auf immaterielle und materielle Vermögenswerte)
- Rückstellungen oder Wertberichtigungen
- Start-up-spezifisch:
Da bei jungen Unternehmen häufig immaterielle Werte (z.B. Software, Patente) im Fokus stehen, ist Transparenz bei der Bewertung besonders wichtig. Übertrieben optimistische Annahmen könnten künftige Gewinne «auf dem Papier» erhöhen, die real, aber kaum haltbar sind.
3. Auffällige Veränderungen bei wichtigen Finanzkennzahlen
- typisches Risiko:
Extreme Ausschläge bei Kennzahlen wie Eigenkapitalquote, Verschuldungsgrad, EBIT-Marge oder Cashflow-Quote können eine ungesunde Unternehmensentwicklung verbergen. - relevante Kennzahlen:
- Debt-to-Equity-Ratio (Verschuldungsgrad)
- Current Ratio (Liquidität 3. Grads)
- EBIT-Marge (Anteil des Gewinns vor Zinsen und Steuern am Umsatz) im Zeitverlauf
- Start-up-spezifisch:
Junge Firmen setzen häufig auf Risikokapital. Eine hohe Verschuldung bzw. eine stark negative Eigenkapitalquote könnte jedoch potenzielle Investoren abschrecken, wenn kein klarer Pfad zur Profitabilität erkennbar ist.
4. Schwache Corporate Governance
- typisches Risiko:
Unklare Entscheidungsstrukturen, unzureichende interne Kontrollen oder fehlende Transparenz erhöhen das Risiko von Manipulationen und Fehlentscheidungen. - relevante Kennzahlen:
- Qualität und Umfang der Offenlegungspflichten im Geschäftsbericht und Anhang
- Bericht des Revisionsorgans (bei etablierten KMU)
- Start-up-spezifisch:
Insbesondere bei stark wachsenden jungen Unternehmen kann die Corporate Governance zu kurz kommen. Ein mit externer Expertise besetzter Verwaltungsrat oder ein Advisory Board mit klaren Verantwortlichkeiten und Kontrollmechanismen wirkt vertrauensbildend – vor allem gegenüber (potenziellen) Geldgebern.
5. Mögliche Verbindlichkeiten und Verpflichtungen (Off-Balance-Sheet-Risiken)
- typisches Risiko:
Eventualverbindlichkeiten (z.B. Garantien, Rechtsstreitigkeiten) oder Leasing- und Kaufverpflichtungen, die nicht klar in der Bilanz erkennbar sind, können die finanzielle Stabilität gefährden. - relevante Kennzahlen:
- Verhältnis anerkannter zu potenziellen Verbindlichkeiten
- Umfang von mietvertragsähnlichen Leasingverträgen (Operating-Leasing)
- Start-up-spezifisch:
Häufig sind junge Unternehmen auf flexible und häufig kurzfristige Finanzierungs- oder Leasingverträge angewiesen. Fehlen diese Angaben oder werden sie unvollständig kommuniziert, kann das die Bonität deutlich schwächen.
6. Transaktionen ohne klare Begründung
- typisches Risiko:
Hohe Zahlungen oder Buchungen, deren wirtschaftlicher Hintergrund nicht ersichtlich ist, können auf Unregelmässigkeiten hinweisen. - relevante Kennzahlen:
- ausserordentliche Aufwendungen oder Erträge
- Vergleich von Cashflows mit gebuchten Erträgen/Aufwendungen
- Start-up-spezifisch:
Gründerteams neigen bisweilen dazu, Kapital in Projekte oder Dienstleister zu investieren, die nicht unmittelbar dem Hauptgeschäftszweck dienen. Transparenz und eine solide Dokumentation sind entscheidend, um Misstrauen zu vermeiden.
7. Rückläufige Rentabilität
- typisches Risiko:
Ein schleichender oder stetiger Rückgang der Margen kann Ineffizienzen, steigende Kosten oder fehlende Nachfrage signalisieren. - relevante Kennzahlen:
- Nettogewinnmarge (Net Profit Margin)
- Eigenkapitalrendite (Return on Equity – ROE)
- Start-up-spezifisch:
Viele Start-ups agieren anfangs profitlos und konzentrieren sich auf Wachstum. Dennoch sollten Trendlinien erkennen lassen, ob sich die Verluste in vertretbaren Grenzen halten und ob ein positiver Trend (z.B. bessere Deckungsbeiträge) erkennbar ist.
Passende Produkt-Empfehlungen
8. Steigende Verschuldung
- typisches Risiko:
Sehr hohe oder stark wachsende Schulden können schnell zu Liquiditätsengpässen und einer Abhängigkeit von Gläubigern führen. - relevante Kennzahlen:
- Verschuldungsgrad (Debt-to-Equity-Ratio)
- Zinsdeckungsgrad (Interest-Coverage-Ratio)
- Start-up-spezifisch:
Manche Gründer versuchen, fehlendes Eigenkapital durch kurzfristige Darlehen zu ersetzen. Ein ständig wachsender Schuldenberg ohne klare Perspektive auf Folgefinanzierungen oder Break-even-Point ist ein Warnsignal für Investoren.
9. Negative Geldflüsse
- typisches Risiko:
Selbst bei ausgewiesenen Gewinnen kann ein negativer operativer Cashflow auf Liquiditätsprobleme hinweisen. - relevante Kennzahlen:
- operativer Cashflow (aus der betrieblichen Tätigkeit)
- Free Cashflow (operativer Cashflow minus Investitionsausgaben)
- Start-up-spezifisch:
Viele junge Firmen verbrennen anfangs Kapital («Burn Rate»), um Wachstum zu finanzieren. Entscheidend ist jedoch eine realistische Planung: Wenn der Burn Rate keine ausreichenden Liquiditäts- oder Finanzierungsreserven gegenüberstehen, droht rasch die Zahlungsunfähigkeit.
10. Hohe Ausfall- oder Forderungsabschreibungsraten
- typisches Risiko:
Wachsende Bestände an zweifelhaften Forderungen deuten auf Probleme im Forderungsmanagement oder in der Kundenselektion hin. - relevante Kennzahlen:
- Wertberichtigungen auf Forderungen bzw. Forderungsverluste
- Debitorenfrist (Days Sales Outstanding – DSO)
- Start-up-spezifisch:
Eine hohe Ausfallquote bei Kunden kann die knappe Liquidität von Start-ups schnell gefährden. Gerade wenn junge Firmen noch keine Reputation aufgebaut haben, sollten sie ein wirksames Forderungsmanagement etablieren.
11. Inkonsistente Zahlen
- typisches Risiko:
Widersprüche zwischen den verschiedenen Teilen des Abschlusses (z.B. Erfolgsrechnung, Bilanz und Cashflow-Rechnung) lassen auf fehlerhafte oder manipulierte Buchungen schliessen. - relevante Kennzahlen:
- Abgleich von Erfolgsrechnung, Bilanz und Cashflow-Rechnung
- Häufigkeit von bilanziellen Bewertungsänderungen (Restatements) bzw. nachträglichen Korrekturen
- Start-up-spezifisch:
Junge Unternehmen müssen besonders auf eine klare und einheitliche Darstellung ihrer Kennzahlen achten, da potenzielle Investoren oft genauer hinsehen, um die Glaubwürdigkeit des Teams und des Geschäftsmodells zu prüfen.
12. Ungewöhnliche Rechnungslegungsmethoden
- typisches Risiko:
Der Einsatz ungewöhnlicher oder branchenunüblicher Bewertungsmethoden kann zu Über- oder Unterbewertungen von Vermögenswerten oder Verbindlichkeiten führen. - relevante Kennzahlen:
- Abschreibungsmethoden, Wertansatz immaterieller Güter
- Vergleich mit Standardvorgehen (z.B. IFRS, Swiss GAAP FER, OR)
- Start-up-spezifisch:
Gerade bei Software-as-a-Service-(SaaS-) oder Tech-Start-ups mit hohem Anteil immaterieller Vermögenswerte kommt es häufig zu Schätzungen. Intransparente oder zu optimistische Bewertungsansätze können die Substanz des Unternehmens unrealistisch schönrechnen.
13. Anhäufung von Lagerbeständen
- typisches Risiko:
Ein unverhältnismäßig starkes Wachstum der Vorräte bei stagnierendem Absatz kann auf Produktions- oder Absatzprobleme hinweisen. - relevante Kennzahlen:
- Lagerumschlagshäufigkeit (Inventory Turn-over)
- Vorratsquote am Umsatz
- Start-up-spezifisch:
Physische Produkt-Start-ups laufen Gefahr, zu viele Produkte zu produzieren, bevor der Markt reif ist. Dies bindet Kapital, das in anderen Unternehmensbereichen dringend benötigt wird, und führt so zu Liquiditätsengpässen.
Ergänzende Start-up-spezifische Warnhinweise
- Überambitionierte Prognosen bei fehlender Marktreife
Beispiel: Ein junges Unternehmen behauptet, binnen weniger Monate einen Marktanteil von 50% zu erreichen, ohne schlüssigen Businessplan oder Markttests.
Risiko: Übertriebene Umsatz- oder Wachstumszahlen schrecken Investoren ab, sobald sie feststellen, dass es keine realistische Basis dafür gibt. - Intransparente Gesellschafterstruktur
Beispiel: Häufig wechselnde Anteilseigner ohne klaren Cap Table oder mehrstufige Investmentvehikel, die nicht offengelegt werden.
Risiko: Mangelnde Übersicht über die Besitzverhältnisse führt zu Konflikten, erschwert spätere Finanzierungsrunden und kann die Governance untergraben. - Keine klare Kostenplanung bei schnellem Wachstum
Beispiel: Ein Start-up stellt in kurzer Zeit viele Mitarbeitende ein, ohne entsprechendes Wachstum bei Umsätzen oder Prozessen.
Risiko: Die Burn Rate (Ausgabenrate, die erkennen lässt, wie schnell ein Unternehmen seine liquiden Mittel verzehrt) steigt massiv an. Ohne gezielte Kostenkontrolle kann dies schnell zur Insolvenz führen, falls die erwarteten Einnahmen ausbleiben oder sich verzögern.
Fazit
Die in den Jahresrechnungen sichtbaren «Red Flags» sind essenzielle Indikatoren dafür, ob ein Unternehmen solide aufgestellt ist oder ob finanzielle und organisatorische Risiken bestehen. Vor allem für junge Unternehmen und Start-ups ist die Situation oftmals noch kritischer, da ihnen in der Anfangsphase meist die finanziellen Rücklagen und langjährige Markterfahrung fehlen. Ein frühzeitiges Erkennen und aktives Gegensteuern bei auffälligen Kennzahlen kann entscheidend sein, um das Vertrauen von Investoren, Kreditinstituten und anderen Stakeholdern zu erhalten.
Gleichzeitig bieten die genannten Warnsignale auch Chancen, interne Strukturen und Strategien zu verbessern. Egal, ob es sich um ein etabliertes KMU oder ein wachstumsstarkes Start-up handelt, zählen solide, transparente und realistische Jahresrechnungen als wichtige Grundlage und Bedingung für ein nachhaltiges Vertrauen der Anspruchsgruppen des Unternehmens.
Quellen- und Literaturhinweise
Elsayed, A. (2017): Indicators of the Financial Statement Fraud (Red Flags), online: https://papers.ssrn.com
Weaver: Critical Red Flags in Financial Statement Reviews, online: Critical Red Flags in Financial Statement Reviews | Weaver
Zack, G. (2012): Financial Statement Fraud: Strategies for Detection and Investigation, John Wiley & Sons
365financialanalyst.com: Accounting & Financial Statement Manipulation (Red Flags) – 365 Financial Analyst