Stille Reserven: In der Rechnungslegung
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Ermessens- und Willkürreserven
Aus bilanzieller Sicht stellen stille Reserven damit erzielte, aber nicht offen ausgewiesene Gewinne dar. Ebenso wie offene Reserven tragen die stillen Reserven aus Finanzierungssicht zur Tragfähigkeit von Verlusten und zur Kreditfähigkeit der Gesellschaft bei.
Werden stille Reserven im Rahmen der Bilanzierung bewusst bzw. absichtlich gebildet, so handelt es sich entweder um Ermessensreserven oder sogar um Willkürreserven. Während stille Ermessensreserven durch eine (über-)vorsichtige Bewertung von Vermögenswerten und Schulden, häufig in Zusammenhang mit Schätzvorgängen entstehen, werden stille Willkürreserven absichtlich vom Bilanzierenden zum Zwecke der bewussten Gewinnbeeinflussung im Zusammenhang mit Bilanzierungswahlrechten (z.B. durch den Ansatz nicht betriebsnotwendiger Wertberichtigungen und Abschreibungen) gewählt. Umgekehrt kann durch die Auflösung stiller Willkürreserven ein ungenügendes Ergebnis verbessert werden. Dennoch bleibt die Unterscheidung von Willkür- und Ermessensreserven vor allem eine theoretische Übung, denn in der Praxis sind beide zum einen kaum zu unterscheiden und zum anderen, führen beide zum gleichen Ergebnis: die Bildung der stillen Reserven kürzt den betrieblichen Gewinn vor Steuern und führt so zu einer Senkung der Steuerlast.
Für die Bildung stiller Ermessens- oder Willkürreserven existieren die folgenden drei Möglichkeiten im Rahmen der Buchführung bzw. Aufstellung des handelsrechtlichen Jahresabschlusses:
- aktivierungsfähige Vermögenswerte werden nicht bilanziert,
- bilanzierte Vermögenswerte werden unterbewertet (z.B. durch Verzicht auf mögliche Zuschreibungen oder nicht betriebsnotwendige Wertberichtigungen und Abschreibungen),
- bilanzierte Schuldpositionen werden überbewertet (z.B. durch nicht betriebsnotwendige Rückstellungen).
Der Umfang stiller Reserven aus betriebswirtschaftlicher Sicht wird durch die Gegenüberstellung des tatsächlichen Werts der Vermögens- und der Schuldposten mit ihrem jeweiligen Buchwert erkennbar, wobei eine positive Wertdifferenz den stillen Reserven entspricht. Während aus betriebswirtschaftlicher Sicht die stillen Reserven ihrer Art nach nicht genauer aufgeschlüsselt werden, findet aus handelsrechtlicher Sicht wenigstens eine Unterscheidung von stillen Zwangsreserven und stillen Absichts- bzw. Willkürreserven statt. Stille Zwangsreserven entstehen durch Wertsteigerungen von Vermögenswerten, z.B. im Falle einer Immobilie durch die Differenz aus dem höherem Marktwert und niedrigeren Bilanzwert auf Basis der Anschaffungs- oder Herstellungskosten ohne eigenes Zutun der Gesellschaft. Dagegen entstehen Absichts- und Willkürreserven stets durch bilanzpolitische Entscheidungen der Gesellschaft.
Aus handelsrechtlicher bzw. aktienrechtlicher Sicht lassen sich die stillen Reserven von Vermögenswerten durch den Abzug des niedrigeren Buchwerts vom aktienrechtlichen Höchstwert ermitteln. Für die Passiven gilt, dass die stillen Reserven durch den Abzug des Buchwerts vom Niederstwert der Passiven ermittelt werden. In beiden Fällen werden die stillen Reserven durch die Wertdifferenz zwischen dem Buchwert und einem (objektiven) internen Wert angegeben.
Der handelsrechtliche Jahreserfolg wird nicht durch den Bestand an stillen Reserven, sondern nur durch deren Veränderung (Bildung und/oder Auflösung stiller Reserven) im Geschäftsjahr beeinflusst.
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Stille Reserven aus Sicht des Obligationenrechts
Im Aktienrecht haben stille Reserven bereits entwicklungsgeschichtlich eine grosse Bedeutung, die durch die Betonung des Gläubigerschutzes sowie des Vorsichtsprinzips getragen wird. Bis zur Revision des Rechnungslegungsrechts war durch die Vorschriften des Art. 669 Abs. 2 und 3 aOR ein explizites Wahlrecht für die Bilanzierenden im Aktienrecht verankert, mit dem die Bildung stiller Reserven zu Wiederbeschaffungszwecken sowie darüber hinausgehende stille Reserven als zulässig erachtet wurden. Ergänzt wurden diese Regelungen durch die Berichtspflicht über Bildung und Auflösung stiller Reserven gegenüber der Revisionsstelle (Art. 669 Abs. 4 aOR) sowie die Pflicht zur Angabe des Gesamtbetrags wesentlicher aufgelöster stiller Reserven im Anhang (Art. 663b Zif. 8 aOR). Somit waren stille Ermessens- und Willkürreserven gleichermassen im Rahmen von der Bewertung von Vermögens- und Schuldposten zulässig, wenn nicht sogar erwünscht, damit eine Gesellschaft ihre bilanzielle Substanz zum Wohle der Gläubiger und zu Lasten der öffentlichen Steuereinnahmen stärken konnte. Letzteres war die Folge aus dem steuerlichen Massgeblichkeitsprinzip, wonach die rechtskonforme OR-Jahresrechnung für die Ermittlung der direkten Steuern massgebend ist.
Mit dem Rechnungslegungsrecht im Schweizer Obligationenrecht in der Fassung vom 01. Januar 2013 erfolgte keine grundsätzliche Abkehr von der bisherigen handelsrechtlichen Zulässigkeit stiller Reserven. Somit sind stille Ermessens- und Willkürreserven, wie sie im Rahmen von Abschreibungen und Wertberichtigungen (Art. 960a Abs. 4 OR) sowie Rückstellungen (Art. 960e Abs. 3 und 4 OR) gebildet werden können, zulässig. Eine weiterhin explizite Einladung zur Bildung stiller Ermessens- und Willkürreserven findet sich in Art. 960a Abs. 4 OR, wonach Wertkorrekturen zum Zwecke stiller Reserven für die Sicherung des dauernden Gedeihens des Unternehmens möglich sind, soweit sie nicht die zuverlässige Beurteilung der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens verhindern (Art. 960 Abs. 2 OR). Dieses Wahlrecht gilt damit auch für Fälle, in denen kein betriebsnotwendiger Rückstellungsbedarf besteht oder eben nicht in der gewählten Rückstellungshöhe besteht. Eine weitere Möglichkeit ergänzend hierzu erlaubt dem Bilanzierenden, nicht mehr begründete Rückstellungen nicht aufzulösen (Art. 960e Abs. 4 OR), was folglich den Fortbestand einmal gebildeter stiller Reserven sichert.
Boeckli sieht vor allem durch die Übernahme der Bilanzierungspraxis bei den stillen Reserven die Glaubwürdigkeit der Jahresabschlüsse nach OR-Rechnungslegung als beschädigt an, doch ist ein allfälliger Schaden sicher nicht grösser als bereits vor der Revision des Rechnungslegungsrechts durch die freizügige Praxis der stillen Reserven möglich war. Auch insofern hat sich der Handlungsspielraum für die Bildung stiller Reserven aus Sicht der bilanzierenden Unternehmen materiell nicht geändert. Dies ist auch der Tatsache geschuldet, dass das Prinzip des true and fair view nicht ins neue Gesetz übernommen worden ist.
Stille Reserven aus Sicht der anerkannten Standards
Da die anerkannten Standards zur Rechnungslegung (vor allem Swiss GAAP FER, IFRS und US GAAP) mit der Jahresrechnung der übergeordneten Zielsetzung folgen, ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage einer Gesellschaft zur Verfügung zu stellen (true and fair view), ist die Bildung und der Ausweis stiller Absichts- und Willkürreserven aus Sicht der anerkannten Standards nicht zulässig. Da die dem true and fair view-Grundsatz folgenden anerkannten Standards mit der Jahresrechnung entscheidungsbezogene Informationen für Adressaten zur Verfügung stellen wollen, werden die durch stille Reserven beeinflussten zu niedrigen Wertansätze der Aktiven bzw. zu hohen Wertansätze der Passiven abgelehnt, weil hierdurch die Darstellung der wirtschaftlichen Tatsachen verhindert wird.
Fazit
Zwar soll die handelsrechtliche Rechnungslegung nach der geltenden OR-Rechnungslegung die wirtschaftliche Lage des Unternehmens so darstellen, dass sich Dritte ein zuverlässiges Urteil bilden können, doch dieses Ziel scheint kaum erreichbar. Zu gross sind die Handlungsspielräume für Unternehmen bei der Bildung von stillen Reserven. Was auf der einen Seite somit als KMU-freundliche Bilanzierungspraxis erscheint, verhindert auf der anderen Seite die Transparenz in tatsächliche wirtschaftliche Verhältnisse.