Zivilcourage: 15 Tipps, wie Sie Zivilcourage zeigen

Zivilcourage zeigen: Nicht nur bei Gewalt und rassistischen Übergriffen. Auch im Berufsalltag bei Anmachen und Niedermachen des Teamkollegen braucht es Mut.

14.09.2022 Von: Brigitte Miller
Zivilcourage

Zivilcourage: Nicht bloss für Helden

Sobald das Wort Zivilcourage fällt, triggert es ganz automatisch viele Assoziationen: Von heldenhaften Taten, die von Menschen, die unerschrocken für ihre Werte und Überzeugungen eintreten, begangen werden. Vielleicht fallen Ihnen spontan Namen solcher Menschen ein: Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela, Hans und Sophie Scholz, Anna Stepanowna Politkowskaja, Malala Yousafzai. Namen, die Bewunderung auslösen, aber vielleicht auch ein wenig „entrückt“ sind, d.h. Sie können sich kaum mit ihnen und deren Heldentaten identifizieren. Ihr Leben erscheint im Vergleich vielleicht ein wenig „klein“ und ohne Anlässe, die Zivilcourage fordern.

Nur, bei Zivilcourage geht es längst nicht immer um Leben oder Tod. Oder um den Kampf gegen Kolonialismus oder Apartheid. Im Gegenteil. Zivilcourage fängt im Kleinen an – und passt somit wunderbar in Ihr „kleines“ (Berufs-)Leben. Denn Zivilcourage ist überall gefordert: In alltäglichen Situationen auf der Strasse, in der Bahn, im unmittelbaren Wohnumfeld und auch im Büro. Überall dort, wo Menschen von anderen genötigt, verunglimpft, bedroht, gedemütigt, beleidigt, gemobbt, in die Enge getrieben oder angegriffen werden, ob mit Worten oder mit Geschubse oder Schlägen.

Nur Mut – und Zivilcourage zeigen

Zivilcourage kann und darf jeder zeigen. Auch Sie. Wir alle. Die meisten wissen es. Die meisten haben es sich vorgenommen. Nur, manches Mal misslingt es. Es wird eher weggesehen. Oder geschwiegen. Oder das Opfer ihrem Schicksal überlassen. Oder gedacht „Soll doch ein anderer Passant jetzt einschreiten“.

In solchen Momenten fehlt vielleicht der Mut. Vielleicht scheitert es auch daran, dass es bei einer Stufe auf dem Weg zur Zivilcourage, Unsicherheiten auftraten. Denn, um Zivilcourage zeigen zu können, heisst es fünf Stufen zu meistern.

    Die 5 Stufen der Zivilcourage im Alltag

    Sensibilisieren Sie sich für die 5 Stufen, die jeder überwinden muss. Je besser Sie diese kennen, umso besser gelingt es Ihnen, Ihre Zivilcourage zu aktivieren.

    Hinweis: Würdigen Sie Ihr Vorgehen. Egal, ob Sie jede Stufe erklimmen und meistern. Oder, ob Sie vielleicht beispielsweise bei der dritten Stufe innehalten und dem sogenannten Bystander-Effekt unterliegen. Jeder Versuch, Zivilcourage zu zeigen, bedarf Ihrer Anerkennung. Denn mit jedem Versuch stärken Sie Ihren Muskel „Zivilcourage“.

    Stufe 1: Situation wahrnehmen

    Ein kritisches Ereignis muss von Ihnen bemerkt werden. Manches Mal gelingt dies ganz einfach. Sie sehen und hören, wie jemand eine Frau an der Supermarktkasse anpöbelt „Jetzt leg mal einen Zahn zu, du fette Schlampe.“ Manches Mal sind Sie jedoch mit anderem beschäftigt. Sie hören nur ganz am Rande, wie Ihr Teamkollege sich über eine Teamkollegin herablassend äussert „Resi, unser Sensibelchen. Kaum sagt man mal ein hartes Wort, kämpft sie mit den Tränen. So eine Heulsuse. Morgen bringe ich ihr eine Box Taschentüchern mit.“

    2 Tipps, wie Sie diese Stufe meistern:

    1. Sensibilität erhöhen. Schulen Sie Ihre Wahrnehmung. Achten Sie auf (kleinste) Signale wie Parolen, Pöbeleien oder handgreifliche Übergriffe.
    2. Werte abrufen. Zivilcourage wird getriggert – durch Ihre Werte. Jedes Ereignis löst etwas in Ihnen aus. Denn jedes Ereignis bringt Ihre Werte in „Schwingung“. Nicht immer harmonieren diese „Schwingungen“ mit Ihren Werten. Sie fühlen sich dann unwohl und unbehaglich. Nehmen Sie solche Emotionen ernst. Achten Sie auf Ihr Bauchgefühl.

    Stufe 2: Als Notfall bewerten

    Ihr Bauchgefühl schlägt gerade Purzelbäume. Ob nun an der Supermarktkasse oder im Büro, Ihr Bauchgefühl weist Sie auf eine Schieflage und Werte-Verletzung hin. Hervorragend. Allerdings benötigt Ihr Bauchgefühl ein wenig Unterstützung, bevor Sie dank Ihrer Zivilcourage einschreiten.

    Hinterfragen Sie das Ereignis kurz: Bewerten Sie die Situation als einen Notfall? Nicht jede Situation kann immer eindeutig bewertet werden. Leider. Vielleicht sehen Sie, wie eine Frau in der U-Bahn belästigt wird. Doch verweist die Belästigung auf eine Auseinandersetzung zwischen Fremden oder auf einen Streit eines Pärchens? Erst beim weiteren Beobachten, können Sie vielleicht Anzeichen erkennen, dass diese Belästigung zu eskalieren droht.

    2 Tipps, wie Sie diese Stufe meistern:

    1. Hinterfragen und bewerten. Manche Situationen sind eindeutig. Manche sind es weniger. Hinterfragen Sie Ihre Beobachtung. Untermauern Sie Ihr Bauchgefühl mit weiteren Signalen, die bestätigen: Hier wird jemand attackiert.
    2. Sich einfühlen. Ihre Empathie ist gefragt. Fühlen Sie sich in das Opfer ein. Achten Sie auf die Körpersprache, das Verhalten und die verbale Reaktion, die derjenige – das Opfer – auf den Angriff zeigt. Vielleicht kann sich derjenige wehren. Vielleicht auch nicht. Und der Notfall tritt dann definitiv ein.

    Stufe 3: Sich verantwortlich fühlen

    Diese Stufe stellt eine erste Herausforderung in puncto Zivilcourage dar. Denn die Anwesenheit anderer, sich nicht einmischender Personen mindert die eigene Zivilcourage. Je mehr Menschen also Zeugen des Vorfalls werden, umso mehr steigt das Risiko, die eigene Verantwortung auf andere abzuwälzen „Soll der doch was sagen, der steht direkt hinter dem Typ, der die Frau anpöbelt“. Dies wird als Bystander-Effekt bezeichnet.

    Jeder von uns unterliegt diesem Bystander-Effekt. Sie fühlen sich vielleicht unsicher. Sie wissen nicht, wie Sie vorgehen sollen. Sie sehen, dass andere kaum oder gar nicht reagieren. Schnell schieben Sie die Verantwortung von sich. Akzeptieren Sie dies erst einmal. Und würdigen Sie in jedem Falle: Sie haben sich für einen kurzen Moment verantwortlich gefühlt. An diesen Moment können Sie zukünftig anknüpfen und aufbauen.

    2 Tipps, wie Sie diese Stufe meistern:

    1. Impulse für den Bystander-Effekt erkennen. Die Verantwortung abzugeben, wird durch bestimmte Impulse aktiviert. Vielleicht schweigen die anderen. Vielleicht schauen die anderen demonstrativ weg. Sensibilisieren Sie sich für die Impulse, die bei Ihnen den Bystander-Effekt auslösen. Dadurch können Sie schneller erkennen, ob Sie in diese Falle tappen.
    2. Mental gegensteuern. Stärken Sie Ihren Mut. Verankern Sie Affirmationen, die den Bystander-Effekt durchbrechen wie beispielsweise „Die anderen Zeugen mögen wegschauen, ich schaue hin und schreite ein“ oder „Ich stehe dem Opfer bei. Ich erhebe meine Stimme – und durchbreche das Schweigen.“

    Stufe 4: Handlungswissen aktivieren

    Die vierte Stufe ist eine weitere Herausforderung. Sie sind im Grunde einen Schritt davon entfernt, einzugreifen. Da der Muskel „Zivilcourage“ wenig trainiert wurde, fehlt es hier meist an Handlungswissen. Verständlicherweise fühlen Sie sich deshalb verunsichert. Vielleicht befürchten Sie, sich die Kritik anderer einzuhandeln „Ach, lassen Sie den doch, solange der nur redet“. Mitunter werden Sie selbst zur Zielscheibe, werden beschimpft und Ihnen gegenüber werden Drohgebärden gezeigt. All diese möglichen Ausgänge ziehen Sie rasch in Erwägung.

    Hinzu kommen Ihre Erwartungen, die Sie an sich stellen. Vielleicht glauben Sie, den Schläger vom Opfer trennen zu müssen. Oder, dass Sie die Situation aus eigener Kraft schlichten müssen. Oder, dass Sie den Kollegen von seinen Vorurteilen abbringen müssen.

    Beides – der potenzielle Ausgang gekoppelt mit Ihren Erwartungen – fliesst beim Scannen Ihrer Fähigkeiten, Kompetenzen und Ihres Wissens mit ein. Blitzschnell prüfen Sie:

    • Bin ich der Situation überhaupt gewachsen?
    • Was wäre hier die angemessene Reaktion?
    • Wie soll ich mich verhalten?
    • Welche meiner Fähigkeiten kann ich einsetzen?

    Vielleicht fallen Ihre Antworten ernüchternd aus. Sie fühlen sich überfordert. Akzeptieren Sie Ihre Antworten. Überlegen Sie in einer ruhigen Minute, wie Sie hätten reagieren können. Diskutieren Sie das Ereignis mit Freunden und Kollegen. Suchen Sie Rat bei der Polizei. Absolvieren Sie ein Trainingsangebot zum Thema „Zivilcourage“.

    2 Tipps, wie Sie diese Stufe meistern:

    1. Erwartungen herunterschrauben. Stellen Sie sich Ihren Erwartungen. Hinterfragen Sie diese. Zivilcourage zu zeigen, heisst nicht, den Helden zu spielen und sich selbst in Gefahr zu bringen.
    2. Handlungsrepertoire weiten. Setzen Sie Ideen frei, wie Sie handeln könnten. Üben Sie Ihre Zivilcourage mit Freunden, indem Sie kritische Ereignisse nachstellen. Trainieren Sie auf diese Weise neue Verhaltensweisen, die Sie in Zukunft müheloser abrufen können.

    Stufe 5: Eingreifen

    Sie sind soweit. Die letzte Stufe ist erreicht. Nur Mut. Sie packen es. Verinnerlichen Sie den einen oder anderen der folgenden Tipps, um gut eingreifen zu können.

    7 Tipps, wie Sie diese Stufe meistern:

    1. Den Täter beobachten. Prägen Sie sich auffällige Merkmale ein, die vielleicht eine spätere Fahndung erleichtern.
    2. Helfen Sie, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Sagen Sie laut „Stopp“ oder „So nicht“. Halten Sie Abstand zu dem Täter. Siezen Sie den Täter (oder die Täterin). Fassen Sie ihn nicht an. Denn Berührungen oder gar körperliche Angriffe provozieren nur noch mehr.
    3. Dem Opfer zur Seite stehen. Manches Mal ist die Situation nicht eindeutig. Fragen Sie nach „Benötigen Sie Hilfe?“ Suchen Sie den Blickkontakt zum Opfer. Stellen Sie sich neben sie. Fangen Sie ein Gespräch an, falls die Situation es erlaubt, um das Opfer so vom Täter zu „trennen“. Fokussieren Sie das Opfer und nicht den Täter.
    4. Sachlich und ruhig bleiben. Treten Sie nicht aggressiv auf, weder verbal noch nonverbal.
    5. Ruhig widersprechen. Ziehen Sie eine verbale Grenze. Teilen Sie beispielsweise Ihrem Kollegen mit „Stimmt, Resi ist sensibel. Sie ist sogar hochsensibel. Eine Fähigkeit, die uns allen im Team schon so oft zu Gute gekommen ist. Vielleicht solltest du morgen statt einer Box Taschentücher lieber eine Entschuldigung überreichen. Und keine so harten Worte mehr äussern.“
    6. Anwesende involvieren. Sprechen Sie andere an, die das Ereignis miterleben. Bitten Sie um deren Hilfe „So etwas dürfen wir nicht zulassen. Da stimmen Sie mir zu, nicht wahr?“
    7. Polizei alarmieren. Erfordert es die Situation, rufen Sie die Polizei. Stellen Sie sich als Zeuge zur Verfügung.
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