Wesentlichkeitsanalyse: Vorgehensweise und kritische Erfolgsfaktoren

Die Wesentlichkeitsanalyse bildet einen zentralen Bestandteil für die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen. Sie unterstützt Unternehmen dabei, die wesentlichen Nachhaltigkeitsthemen zu identifizieren, die anschliessend zum Gegenstand des ESG-Reportings werden müssen. Ein verpflichtendes Vorgehen hierzu existiert jedoch bisher genauso wenig, wie es verbindliche methodische Standards gibt. Zahlreiche Beratungsunternehmen haben für ihre Kunden allerdings Empfehlungen zur Durchführung einer Wesentlichkeitsanalyse entwickelt oder sind noch dabei. Für die Unternehmen existiert somit grundsätzlich eine methodische Vielfalt an Möglichkeiten, innerhalb derer ein passender Ansatz gefunden und angewendet werden muss. Im Folgenden werden die Vorteile, ein mögliches Vorgehen und die kritischen Erfolgsfaktoren für die Durchführung einer Wesentlichkeitsanalyse behandelt, bevor am Beispiel eines Nahrungsmittelherstellers eine Konkretisierung erfolgt.

03.07.2024 Von: Prof. Dr. Thomas Rautenstrauch
Wesentlichkeitsanalyse

Einleitung

Die Wesentlichkeitsanalyse wird häufig auch im Kontext der strategischen Planung und Analyse von Unternehmen erstellt. Ziel ist es, die für das Unternehmen und seine Stakeholder relevanten Nachhaltigkeitsthemen zu ermitteln.

Zu beachten ist, dass in der Schweiz wie auch auf europäischer Ebene durch die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) auf die sogenannte doppelte Wesentlichkeitsanalyse zu achten ist. Diese erfordert zum einen die Bewertung der Wesentlichkeit der Auswirkungen des Unternehmens und seiner Geschäftstätigkeit auf Menschen und Umwelt. Zum anderen sind Nachhaltigkeitsaspekte aus Sicht der finanziellen Wesentlichkeit zu berücksichtigen, sofern von diesen Risiken oder Chancen mit Einfluss auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens ausgehen.

Vorteile einer Wesentlichkeitsanalyse

Die Wesentlichkeitsanalyse kann den Unternehmen im Rahmen der Umsetzung eines ESG-Reportings mehrere Vorteile bieten:

  1. Fokus auf das Wesentliche: Durch die Analyse können Unternehmen die wichtigsten Nachhaltigkeitsthemen identifizieren und sich darauf konzentrieren. Dies hilft, Ressourcen effizienter einzusetzen und die relevanten Aspekte zu priorisieren. Die Qualität und das Ergebnis der Wesentlichkeitsanalyse beeinflussen direkt den Projektumfang für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsberichterstattung und bergen somit das Risiko eines unnötigen Mehraufwands.
  2. Stakeholder-Engagement: Die Einbeziehung von Stakeholdern für die Wesentlichkeitsanalyse ist wichtig, weil der zielgerichtete Einbezug der Stakeholder dem Unternehmen ermöglicht, deren Perspektiven und Erwartungen besser zu verstehen. Dies stärkt die Beziehungen eines Unternehmens zu seinen Stakeholdern und fördert zugleich den Dialog.
  3. Risikomanagement: Die Wesentlichkeitsanalyse hilft, Nachhaltigkeitsrisiken zu erkennen und zu bewerten. Unternehmen können proaktiv Maßnahmen ergreifen, um diese Risiken zu minimieren.
  4. Reputation und Glaubwürdigkeit: Ein transparenter Umgang mit wesentlichen Nachhaltigkeitsthemen verbessert die Reputation und Glaubwürdigkeit eines Unternehmens bei Kunden, Investoren und der Öffentlichkeit.
  5. strategische Ausrichtung: Die Analyse liefert wichtige Informationen für die strategische Planung. Unternehmen können ihre Nachhaltigkeitsziele besser definieren und ihre Geschäftsstrategie darauf abstimmen.

Vorgehensweise zur Durchführung einer Wesentlichkeitsanalyse

Für die Durchführung einer Wesentlichkeitsanalyse zum Zweck der Erstellung eines Nachhaltigkeitsberichts empfehlen sich die folgenden Vorgehensschritte:

  1. Umfeldanalyse: Hier gilt es, zunächst die Umwelt zu untersuchen, in der das Unternehmen tätig ist. Dabei gilt es, ökologische, technische, politisch-rechtliche, soziale und wirtschaftliche Aspekte zu berücksichtigen. Typische Fragestellungen hierzu betreffen beispielsweise die Besonderheiten, welche sich aus dem oder den Standort(en), der Branchenzugehörigkeit oder den Erwartungen der Stakeholder ergeben können. Zusätzlich empfiehlt es sich, im Rahmen der Umfeldanalyse eine Überprüfung von Branchenstandards und regulatorischen Anforderungen durchzuführen. Zu den grundlegenden Themen gehören aus Sicht der bereits oben erwähnten CSRD vor allem die Klimakennzahlen (CO2-Kennzahlen) sowie die allgemeinen Angaben des Unternehmens zu seiner Nachhaltigkeitsstrategie.
  2. Stakeholder-Dialog: Im Rahmen des Stakeholder-Dialogs geht es um die Befragung der wichtigsten Interessengruppen (Stakeholder) des Unternehmens, um deren Perspektiven zu kennen und zu verstehen. Dabei steht im Vordergrund, die für die Stakeholder relevanten Nachhaltigkeitsthemen zu identifizieren. Ebenso sollten hierbei die Erwartungen der Stakeholder an das Unternehmen erhoben werden. Am Anfang steht deshalb die Identifikation der relevanten Stakeholder eines Unternehmens, zu denen neben Kunden, Mitarbeitern, Investoren und Lieferanten auch NGOs, die lokale Bevölkerung, Umweltorganisationen und andere Interessengruppen gehören. Deren Erwartungen, Anliegen und Prioritäten können durch Stakeholder-Dialoge in Form von Interviews, Workshops, Umfragen oder Fokusgruppen ermittelt werden.
  3. Materialitätsmatrix (Wesentlichkeitsmatrix): Mittels einer Materialitätsmatrix sollte die Relevanz der Nachhaltigkeitsthemen für die Unternehmung bewertet werden. Dazu sollten die Themen nach ihrer Bedeutung für das Unternehmen und ihre Auswirkungen auf die Stakeholder geordnet werden, um so die wesentlichen Themen zu identifizieren. Innerhalb der Matrix, die regelmässig zwei Dimensionen hat, sollte mittels einer der beiden Achsen die Bedeutung für das Unternehmen dargestellt werden, während die andere die Bedeutung für die Stakeholder abbildet. Die zuvor als relevant identifizierten Themen werden dann entsprechend ihrer Position in der Matrix platziert. Themen, die sich in der oberen rechten Ecke der Matrix befinden (hohe Bedeutung für das Unternehmen und hohe Bedeutung für die Stakeholder), sind besonders wesentlich und sollten die höchste Aufmerksamkeit bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsberichterstattung erhalten. Der Nutzen einer Wesentlichkeitsmatrix geht über die Nachhaltigkeitsanalyse hinaus, weil sich ein Unternehmen hierbei regelmässig mit ihren Risiken und Chancen befasst.
  4. Bewertung der Risiken und Chancen: In einem nächsten Schritt gilt es, die Risiken und Chancen im Zusammenhang mit den identifizierten Nachhaltigkeitsthemen zu analysieren und zu ermitteln, welche Themen das Unternehmen positiv beeinflussen kann bzw. welche Themen negative Auswirkungen haben könnten. Die Messung sollte sich an Kriterien orientieren wie beispielsweise den mit dem Thema verbundenen Effekten auf die Reputation oder auf die Geschäftsstrategie der Unternehmung. Es empfiehlt sich, hierzu mit einer Skala die Intensität der Wirkungen von Risiken und Chancen zu messen.
  5. Priorisierung: Basierend auf den vorherigen Bewertungen sollten die Themen priorisiert werden, um festzustellen, welche angesichts ihrer Relevanz und Auswirkungen am wichtigsten sind und in die Nachhaltigkeitsberichterstattung aufgenommen werden sollten. Dies kann durch die Verwendung von Tools wie der oben genannten Wesentlichkeitsmatrix erfolgen, die die Bedeutung der Themen für das Unternehmen und die Stakeholder visualisiert. Es ist wichtig, die Ergebnisse der Priorisierung bzw. der Wesentlichkeitsanalyse mit den Stakeholdern zu überprüfen und zu validieren, um sicherzustellen, dass ihre Perspektiven angemessen berücksichtigt werden. Dies kann beispielsweise durch Umfragen oder Workshops mit Stakeholdern erfolgen.

Kritische Erfolgsfaktoren für die Durchführung der Wesentlichkeitsanalyse

  • Transparenz und Objektivität: Die Wesentlichkeitsanalyse sollte transparent durchgeführt werden, und die Kriterien zur Bewertung der Themen sollten klar definiert sein. Es ist wichtig, dass die Analyse objektiv ist und nicht durch subjektive bzw. persönliche Einstellungen oder Interessen der mit der Durchführung betrauten Personen beeinflusst wird.
  • Einbeziehung relevanter Interessengruppen: Die Beteiligung und aktive Einbeziehung relevanter Stakeholder ist entscheidend für den Erfolg der Wesentlichkeitsanalyse. Die an der Durchführung der Wesentlichkeitsanalyse beteiligten Mitarbeitenden sollten daher sicherstellen, dass die Perspektiven und Bedürfnisse aller relevanten Interessengruppen der Unternehmung im Verhältnis zu deren Bedeutung angemessen berücksichtigt werden.
  • Aktualisierung und Überprüfung: Die Wesentlichkeitsanalyse sollte regelmässig überprüft, aktualisiert und fortgeschrieben werden, um sicherzustellen, dass sie mit den sich ändernden Unternehmens- und Stakeholder-Bedürfnissen konform ist.
  • Verbindung zur Unternehmensstrategie: Die identifizierten Themen sollten mit den strategischen Zielen und Werten des Unternehmens verknüpft sein, um sicherzustellen, dass die Nachhaltigkeitsberichterstattung zur Schaffung von Mehrwert für das Unternehmen beiträgt.

Beispiel eines Nahrungsmittelherstellers

Für einen Schweizer Nahrungsmittelhersteller gibt es einige branchenspezifische Besonderheiten, die bei der Durchführung einer Wesentlichkeitsanalyse für den Nachhaltigkeitsbericht zu berücksichtigen sind.

1. Stakeholder-Identifikation:

Der Nahrungsmittelhersteller sollte alle relevanten Stakeholder-Gruppen identifizieren, die direkten Einfluss auf sein Geschäft haben könnten. Dazu gehören Kunden, Lieferanten, Landwirte, Regierungsbehörden, NGOs, Mitarbeiter und Kapitalgeber.

Der Hersteller könnte hierfür beispielsweise seine relevanten Kundengruppen durch Umfragen, soziale Medien und Kundendienstinteraktionen identifizieren. Relevante Lieferanten könnten durch eine Bewertung der Lieferantenbeziehungen ermittelt werden. Hierzu kommen verschiedene Kriterien infrage, die sich an der ISO 9001 orientieren können, aber nicht durch diese vorgegeben werden. Infrage kommen Kriterien wie die Qualität der gelieferten Rohmaterialien oder Teile, die Häufigkeit möglicher Fehler oder Verzögerungen, genauso wie die Zuverlässigkeit und Logistik der Lieferanten im Hinblick auf Liefertreue, Mengentreue oder Transporteffizienz. Aus methodischer Sicht werden für die Identifikation von Schlüssellieferanten häufig sogenannte Scoring- bzw. Punktbewertungsmodelle sowie Nutzwertanalysen in Unternehmen eingesetzt.

2. Themenidentifikation:

Der Nahrungsmittelhersteller sollte die spezifischen Nachhaltigkeitsthemen identifizieren, die in der Lebensmittelindustrie von besonderer Bedeutung sind. Dazu gehören Themen wie Lebensmittelsicherheit, Ernährung, Verpackung, Abfallmanagement, Wasserverbrauch, Landwirtschaftspraktiken und Fairtrade.

So könnte der Hersteller in Bezug auf Lebensmittelsicherheit die von ihm verwendeten oder in der Branche gebräuchlichen Qualitätssicherungsverfahren, Rückverfolgbarkeitssysteme sowie Massnahmen zur Vermeidung von Lebensmittelverschwendung analysieren.

3. Bewertung der Themen:

Die identifizierten Themen sollten vom Hersteller bewertet werden, um ihre Bedeutung für das Unternehmen und seine Stakeholder zu bestimmen. Dies könnte durch Umfragen, Interviews und interne Bewertungen wie auch durch externe Expertinnen und Experten erfolgen.

Bezogen auf das hier genannte Beispiel des Nahrungsmittelherstellers könnte dieser die Umweltauswirkungen verschiedener Verpackungsmaterialien bewerten, um herauszufinden, welche Materialien am nachhaltigsten sind und welche gleichzeitig die Produktsicherheit bestmöglich sicherstellen.

4. Priorisierung der Themen:

Basierend auf der Bewertung sollten die Themen priorisiert werden, um festzustellen, welche für das Unternehmen und seine Stakeholder am wichtigsten sind. Dies kann durch die Verwendung einer Wesentlichkeitsmatrix erfolgen, mittels derer der Hersteller feststellen kann, dass Themen wie Lebensmittelsicherheit und verantwortungsvolle Beschaffung von Rohstoffen aufgrund ihrer direkten Auswirkungen auf die Geschäftstätigkeit und auf das Image des Unternehmens von höchster Priorität sind. Zu beachten ist hier auch die bereits oben erwähnte doppelte Wesentlichkeit der identifizierten Themen.

5. Konsultation der Stakeholder:

Der Hersteller sollte die Ergebnisse der Wesentlichkeitsanalyse mit den Stakeholdern überprüfen und validieren, um sicherzustellen, dass ihre Perspektiven angemessen berücksichtigt werden.

Beispiel: Der Hersteller könnte eine Runde von Stakeholder-Konsultationen durchführen, bei denen Kunden, Lieferanten, NGOs und andere Interessengruppen ihre Meinungen und Anliegen zu den identifizierten Themen äußern können.

6. Integrieren der Ergebnisse in die Berichterstattung:

Schließlich sollten die Ergebnisse der Wesentlichkeitsanalyse in den Nachhaltigkeitsbericht des Unternehmens integriert werden, um sicherzustellen, dass die relevantesten Themen adressiert werden.

Der Nahrungsmittelhersteller könnte die identifizierten Themen in seinem Bericht hervorheben und Massnahmen zur Verbesserung der Leistung in diesen Bereichen sowie die damit verbundenen Ziele und Fortschritte darlegen. So stellt beispielsweise eine Erhebung der CO2-Emissionsdaten einen wichtigen Schritt für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsberichterstattung dar.

Zusammenfassung

Die Wesentlichkeitsanalyse ist ein wichtiger Bestandteil der Nachhaltigkeitsberichterstattung, denn sie hilft Unternehmen dabei, die wesentlichen Nachhaltigkeitsthemen zu identifizieren, über die sie berichten müssen. Zwar wird man verbindliche methodische Standards zur Durchführung einer Wesentlichkeitsanalyse zumindest bisher vergeblich suchen, aber ein systematisches und strukturiertes Vorgehen zur Identifikation und Bewertung relevanter Nachhaltigkeitsthemen stellt eine Erfolgsbedingung dar. Die regulatorischen Anforderungen sehen dabei die doppelte Wesentlichkeit als erforderlich an.

Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass eine Wesentlichkeitsanalyse massgeblich dazu beiträgt, die Nachhaltigkeitsbemühungen auf die wichtigsten Themen zu fokussieren, Risiken zu minimieren und die Reputation des Unternehmens zu stärken.

 

Quellen

Ankele, K., & Winterstein, J. (2021). Worauf es bei einer Wesentlichkeitsanalyse ankommt. In: Ökologisches Wirtschaften – Fachzeitschrift36(2), 30–34.

Baumüller, J., & Mayr, J. QUICK GUIDE WESENTLICHKEITSANALYSE GEMÄSS CSRD UND ESRS. 01.01.2023, Wien. Online: research.wu.ac.at/ws/portalfiles/portal/58973466/WWF_CSRD_Quick-Guide.pdf

Kirchhoff, K. R., Niefünd, S., & von Pressentin, J. A. (2024). CSRD: Die Neufassung der Non-Financial Reporting Directive. In: ESG: Nachhaltigkeit als strategischer Erfolgsfaktor (pp. 47–60). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.

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