Nachhaltige Rekrutierung: Absagen mit Wirkung

Ein positives Bewerbungserlebnis, also eine gute «Candidate Experience» prägt das Unternehmensimage. HR-Schulungen und Business-Netzwerke sind gut ausgestattet mit Empfehlungen, wie diese gelingen soll. Dass vieles davon erst als Intention in den Organisationen angekommen zu sein scheint, schildert dieser kontroverse Erfahrungsbericht über den Widerspruch zwischen Anspruch und gelebter nachhaltige Rekrutierung.

10.07.2025 Von: Michelle Zumsteg
Nachhaltige Rekrutierung

«Ich kann Ihnen sagen, dass Sie alle notwendigen Kompetenzen mitbringen, am Ende war es einfach ein Gefühl, das zu dieser Absage geführt hat.»

Das war die Begründung, welche in einem Feedbackgespräch nach einer Absage von der potenziell künftigen Führungskraft einer kantonalen Verwaltung genannt wurde. Tatsächlich hat mir dieses Feedback die Absage erleichtert. Die Aussage musste mich annehmen lassen, dass diese Führungskraft nicht nur im Personalauswahlprozess nach Gefühl, statt nach fundierten Kriterien, entscheidet – was im Widerspruch zu einer nachhaltige Rekrutierung steht.

Nach fünf Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einer Hochschule im Bereich HR-Management war es spannend, im eigenen Bewerbungsprozess zu sehen, wie viel von der gelehrten Candidate Experience tatsächlich gelebt wird. Dabei zeigte sich deutlich, wie sehr eine auf nachhaltige Rekrutierung ausgerichtete Personalgewinnung noch immer als Ideal statt als gelebte Praxis betrachtet wird – das Ergebnis war ernüchternd.

Sein statt scheinen

Zwar hat sich der Fachkräftemangel in der Schweiz im vergangenen Jahr etwas entspannt, er bleibt aber dennoch akut (Fachkräftemangel-Index Schweiz, 2024). Als Folge befassen sich viele Organisationen mit Employer Branding (z.B. Trost, 2014), und eine gute Candidate Experience trägt massgeblich zur Stärkung des Employer Brands bei. Eine Strategie im Sinne einer Employee Value Proposition – als Arbeitgebendenversprechen – zu formulieren und darauf aufbauend Regeln und Prozesse niederzuschreiben, weckt bei den Bewerbenden Erwartungen. Ein Employer Branding bringt der Organisation nichts, wenn die Mitarbeitenden, die die Prozesse umsetzen sollen, sie nicht in ihr Wertesystem integriert haben und sie in der Folge im Berufsalltag nicht leben. Wenn formalisierte Entscheidungen nur eine Innenwirkung haben und der Fokus auf die Kommunikation und den Schein nach aussen gerichtet ist, ohne das Handeln anzupassen, passiert das, was Brunsson (2003) als «organisierte Heuchelei» bezeichnet. Das macht die Employee Value Proposition unglaubwürdig, und daraus resultiert das Gegenteil der ursprünglich positiven Intention: eine schlechte Candidate Experience. Nachhaltige Rekrutierung bedeutet hingegen, dass das kommunizierte Versprechen mit dem erlebten Handeln übereinstimmt.

Beispiele einer schlechten Candidate Experience

Die Candidate Experience geht über den Rekrutierungsprozess hinaus. Dieser Beitrag zeigt sie exemplarisch mit Fokus auf die Bewerbendenkommunikation auf. Von der eingangs erwähnten kantonalen Verwaltung habe ich zwei Wochen nach dem telefonischen Feedbackgespräch für dieselbe Bewerbung erneut eine Absage erhalten. Dabei handelte es sich um eine Standardabsage, in welcher mir mitgeteilt wurde, dass der Bewerbungsprozess nun abgeschlossen sei und mein Dossier es leider nicht in die engere Auswahl geschafft habe. Mein Arbeits- und Organisationspsychologinnenherz kennt viel Toleranz für menschliche Fehler. Dennoch: Eine saubere Abstimmung mit der Personaladministration ist unerlässlich.

Bei einer Bewerbung bei einer Kantonalbank streikte das System, sodass ich mein Motivationsschreiben aus technischen Gründen nicht hochladen konnte. Zwar konnte im Bewerbungstool der Status der Bewerbung verfolgt werden, das Tool liess es aber nicht zu, die Bewerbung im Nachhinein zu editieren. Auf telefonische Nachfrage, ob ich das Motivationsschreiben besser per E-Mail nachreichen soll oder ob ich die Bewerbung bevorzugt komplett neu erfassen soll, meinte die zuständige Recruiterin, dass das Motivationsschreiben nicht wichtig sei für sie und ich mir diesen Aufwand sparen könne. Eine Zustellung per E-Mail sei möglich, entgegnete sie, mit dem Zusatz: «Wenn Sie danach besser schlafen können.»

Der technische Bewerbungsprozess in einem Unternehmen in der Gastrobranche verlief einwandfrei, die Kommunikation war hip und persönlich, abgestimmt auf die Unternehmenswerte und grafisch schön untermalt. In der Eingangsbestätigung wurde mir mitgeteilt, dass ich in einigen Tagen, spätestens aber in zwei Wochen, von ihnen hören werde. Auf die Absage «warte» ich bis heute.

Denken Sie jetzt «das könnte bei uns nie passieren, das läuft bei uns alles digital»? Dann halten Sie einen kurzen Moment inne. Alles sind Beispiele von Unternehmen, deren HR-Prozesse aufgrund ihrer Grösse weitgehend digitalisiert ablaufen dürften. Auch diese verlangen aber menschliches Zutun – eine Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Rekrutierung.

Eine Absage ist das bare Minimum

Es ist nicht zeitaufwendig, auf einen «Decline »-Button zu klicken, der im System eine automatisierte Absage-E-Mail verschickt. Eine Absage ist das Minimum und noch kein Garant für eine gute Candidate Experience. In Zeiten von konstantem Zeitdruck, ChatGPT, Deepseek & Co. geniessen Motivationsschreiben einen immer kleineren Stellenwert. Das ist dann legitim, wenn es transparent in der Stellenausschreibung vermerkt ist. So sparen sich nämlich nicht nur die Organisationen, sondern auch die Bewerbenden Zeit.

Fehler passieren, aber dennoch: Würde ich mich in mittelfristiger Zukunft nochmals um eine Stelle in den oben beschriebenen Organisationen bewerben? Nein. Würde ich einem Kollegen oder einer Kollegin zu einer Bewerbung in einem dieser Unternehmen raten? Nicht, ohne meine Erfahrung zu teilen.

Mit einer Absage einen nachhaltig guten Eindruck hinterlassen

Nebst einem speditiven Bewerbungsprozess, während dem ich zu jedem Zeitpunkt wusste, wo meine Bewerbung steht, und bei dem die genannten Fristen eingehalten wurden, wurde mir die Absage nach dem Interview telefonisch mitgeteilt und mit einem «Feedforward» verbunden. Nebst ihren positiven Eindrücken vom Interview hat die Abteilungsleiterin klare Punkte genannt, damit ich in drei bis fünf Jahren ihre perfekte Kandidatin wäre. Ein Punkt davon war z.B., Erfahrung in einer politisch exponierten Funktion zu sammeln. An sämtlichen Punkten könnte ich arbeiten, und sämtliche Punkte konnte ich in meine künftige Bewerbungsstrategie einbeziehen. Würde ich mich bei Bedarf wieder bei dieser Organisation bewerben? Sofort! Nachhaltige Rekrutierung heisst in diesem Fall: auch mit einer Absage Beziehungen zu pflegen und Entwicklung zu ermöglichen.

Nachhaltige Rekrutierung: Fazit

Von der Stellenausschreibung über das Bewerbungstool, die Professionalität der Mitarbeitenden, über die Instrumente, die im Auswahlprozess eingesetzt werden, bis hin zu den Dienstleistenden, mit denen innerhalb des Personalrekrutierungs- und -auswahlprozesses gearbeitet wird: Sie alle beeinflussen die Qualität der Candidate Experience – und bilden gemeinsam das Fundament einer nachhaltige Rekrutierung, die diesen Namen verdient.

Umso froher bin ich, bei meiner aktuellen Arbeitgeberin, meine Ressourcen und Kompetenzen für ein Unternehmen zur Verfügung zu stellen, welches eine positive Candidate Experience inklusive wohlwollenden, aber transparenten Feedbacks in den Mittelpunkt ihres Tuns rückt. Dabei stützt es sich nicht auf ein «Gefühl», sondern auf evidenzbasierte Diagnostikinstrumente.

Meine Empfehlung an Sie, liebe Personaler* innen: Denken Sie nicht nur daran, dass einige Bereiche (noch) nicht vom Fachkräftemangel betroffen sind und Sie aktuell aus einem qualifizierten Bewerbendenpool aussuchen können. Berücksichtigen Sie, dass die Person, die heute eine Absage erhält, in fünf Jahren die perfekte Person für Ihre Vakanz sein könnte. Wie diese den Bewerbungsprozess Ihres Unternehmens heute wahrnimmt, beeinflusst deren Entscheidung, sich in fünf Jahren allenfalls nochmals bei Ihnen zu bewerben. Berücksichtigen Sie auch, dass die Bewerbenden für ihre bevorstehenden Bewerbungsprozesse von einem ehrlichen Feedback profitieren. Und im Sinne der organisierten Heuchelei von Brunsson (2003): Achten Sie darauf, nicht nur zu scheinen, sondern auch zu sein.

Referenzen

  1. Brunsson, N. (2003). Organized Hypocrycy. In B. Czarniawska-Joerges,
    G. Sevón (Hrsg.), the Northern Light – Organization Theory in Scandinavia
    (S. 201–222). Trelleborg: Berlings Skogs.
  2. The Adecco-Group (2024). Fachkräftemangel-Index Schweiz. Verfügbar
    unter Fachkräftemangel-Index Schweiz | Stellenmarkt-Monitor
    Schweiz | UZH
  3. Trost, A. (2014). Talent Relationship Management. Berlin: Springer.
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