Leadership: Kultivieren statt Kommandieren

Lange Zeit haben wir Leadership mit der Metapher vom Kapitän am Steuerrad eines Schiffes verbunden: Er ist visionär, hat eine ruhige Hand und steuert das Schiff sicher durch gefährliche Stürme. Diese Metapher machte Sinn in einer Welt, die relativ stabil, linear und hierarchisch war. Sie vermittelte das sichere Gefühl, das alles unter Kontrolle ist. Diese Vorstellung von Führung stand für Befehlsgewalt und Sicherheit, verwurzelt in klar definierten Rollen und Autorität von oben nach unten.

03.06.2025 Von: Jeffrey Beeson
Leadership

Die Welt von heute ist schnelllebig, vernetzt und voller Unwägbarkeiten. Daten sind keine knappe Ressource mehr – sie sind im Überfluss vorhanden, oft überwältigend und für jeden zugänglich. Die Grenzen zwischen Rollen, Sektoren und Regionen werden immer durchlässiger. Wir wissen heute, dass alles, was in einem Teil eines Systems geschieht − sei es ein Team, eine Organisation oder das Weltklima − sich rasch auf das gesamte System auswirken kann. Ursache und Wirkung sind nicht mehr linear, sondern verschlungen, dynamisch und schwer nachzuvollziehen.

In diesem Kontext passt die traditionelle Metapher des Kapitäns nicht mehr. Schlimmer noch, sie kann uns in die Irre führen, denn sie impliziert, dass starke Führung bedeutet, stets den Weg zu kennen, alle Antworten zu haben, immer die Kontrolle zu behalten. In komplexen, vernetzten Umgebungen ist dies jedoch bestenfalls eine beruhigende Illusion und schlimmstenfalls kontraproduktiv.

Die Metaphern, die wir benutzen, haben eine nachdrückliche Bedeutung – und Auswirkung

Metaphern sind nicht einfach rhetorisch-bildhafte Umschreibungen. Sie sind mentale Modelle, die unser Verhalten, unsere Wertschätzungen, unsere Ängste und Bestrebungen bestimmen. Sie färben unsere Erwartungen und legen im Stillen fest, was wir für möglich oder akzeptabel halten. Wenn wir uns Führung weiterhin als das Steuern eines Schiffes vorstellen, werden wir auch weiterhin versuchen, die Person auf der Brücke zu sein, die das Kommando hat. Ändern wir die Metapher, ändern wir auch unsere Denkweise. 

Und wenn wir unsere Denkweise ändern, ändern wir auch das, was möglich ist

Die Frage ist also: 
Was wäre eine neue Metapher? Welche Art von Führung brauchen wir heute?

Es beginnt damit, dass wir unsere Definition von Führung erweitern. Wir müssen nicht nur darüber nachdenken, was Führungskräfte tun, sondern auch darüber, wozu Führung dient. In der heutigen Welt bedeutet Führung nicht nur, Umsetzungen voranzutreiben oder Quartalsergebnisse zu erzielen. Es geht vielmehr darum, ein Umfeld zu schaffen, in dem Menschen ihre besten Ideen einbringen und ihre sinnvollste Arbeit leisten können. Es gilt Bedingungen zu schaffen, unter denen Vertrauen, Kreativität und Resilienz gedeihen können. Vor allem aber geht es darum zu erkennen, dass wir nicht nur für die Führung von Menschen verantwortlich sind: Wir sind auch für die Pflege und Erhaltung der grösseren 

Systeme verantwortlich, deren Teil wir sind – das sind unsere Unternehmen, unsere Communities und nicht zuletzt unser gemeinsamer Planet.

In dieser umfassenderen, stärker vernetzten Sichtweise von Führung wird die Metapher des Gärtners besonders relevant.

Der Gärtner kontrolliert nicht das Wachstum der Samen. Wachstum ist ein natürlicher Prozess. Der Gärtner schafft jedoch die Bedingungen für gutes Wachstum, indem er im Einklang mit dem Boden, den Jahreszeiten und der Umwelt arbeitet. Gärtner sind aufmerksame und sorgfältige Beobachter. Sie verstehen das Ökosystem. Sie wissen, wann sie giessen, wann sie abwarten, wann sie beschneiden und wann sie der Natur ihren Lauf lassen müssen. Ihr Erfolg liegt nicht in Druck und Zwang, sondern in sanft führender Begleitung.

Eine wirklich gute Führungskraft zeichnet sich heute dadurch aus, dass sie spürt, was sich abzeichnet, dass sie Zusammenarbeit und Lernen fördert und mit vorausblickender Klugheit statt mit starren Kontrollen agiert. Führung bedeutet weniger zu befehlen als vielmehr ein Umfeld zu schaffen, das Initiativen, neue Erkenntnisse und Anpassungsfähigkeit fördert.

Ein gutes Beispiel hierfür ist Yvon Chouinard, der Gründer von Patagonia. Statt Wachstum durch aggressive Kontrolle voranzutreiben, förderte er eine zweckorientierte Unternehmenskultur, die in der Verantwortung für die Umwelt und dem Wohlergehen der Mitarbeiter wurzelt. Chouinard konzentrierte sich darauf, die richtigen Bedingungen − Vertrauen, Autonomie und gemeinsame Werte − zu schaffen, damit Innovation und Engagement organisch gedeihen konnten. Wie ein Gärtner pflegte er den Boden des Unternehmens, indem er die Geschäftspraktiken mit tieferen ökologischen und menschlichen Rhythmen in Einklang brachte. Der anhaltende Erfolg von Patagonia beruht nicht auf einer vorgegebenen, erzwungenen Richtung, sondern der sorgfältigen und adaptiven Kultivierung eines blühenden Ökosystems.

Auch wenn die Gärtner-Metapher den pflegenden und systemischen Charakter von Führung beschreibt, wird sie der Art und Weise, wie kleine, gut platzierte Massnahmen ganze Systeme verändern können, nicht ganz gerecht. In der vernetzten Welt von heute entsteht Hebelwirkung oft nicht dadurch, dass man noch mehr tut – sondern zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige tut.

Hier kommt die zweite Metapher ins Spiel: die des Akupunkteurs

Ein Akupunkteur versucht nicht, alles auf einmal zu richten. Er interveniert nicht überall. Stattdessen arbeitet er auf der Grundlage eines tiefen Verständnisses der systemischen Prozesse in unserem Körper. Akupunkteure spüren, wo Energie blockiert ist, wo sich Spannungen aufbauen, wo sich Muster wiederholen.  Mit grosser Sorgfalt und Präzision setzen sie eine kleine Nadel an die kritische Stelle. Diese winzige, bewusste Handlung kann Energie freisetzen, Druck abbauen und das Gleichgewicht wiederherstellen − nicht nur an der Stelle der Nadel, sondern im ganzen Körper.

Oft erfordert Network Leadership genau diese Art von Systemverständnis. In komplexen, adaptiven Systemen wie Organisationen werden Veränderungen selten von oben verordnet oder mit Brachialgewalt durchgesetzt. Häufiger geht es darum, zu spüren, wo es hakt, ein sich wiederholendes Muster zu erkennen oder eine übersehene Verbindung zu finden. Ein kleiner, gut getimter Schritt vermag dann die Dynamik zu verändern. Diese Art von Leadership erfordert Einigkeit, Timing, Demut und Vertrauen in die Fähigkeit des Systems, sich selbst zu organisieren, sobald die Blockade gelöst ist.

All das ist keine poetisch-bildhafte Theorie – sie wird von der Netzwerkforschung gestützt. In Netzwerken fliesst Einfluss nicht hierarchisch, sondern über Verbindungen.  Wie schnell und effektiv der Einfluss fliesst, hängt vom Grad des Vertrauens, der Aufmerksamkeit, der Energie und der Resonanz ab. 

Führung in einem vernetzten System erfordert eine andere Art von Intelligenz. Eine Intelligenz, die Beziehungen als Vorteile, Muster als Signale und kleine Schritte als grosse Hebel sieht. Um zu verstehen, wie man in solchen Systemen führt, muss man wissen, wo man am effektivsten handeln kann. Es geht nicht darum, alles selbst zu managen. Es geht darum, dort einzugreifen, wo es am wichtigsten ist.

Als Satya Nadella CEO von Microsoft wurde, hat er nicht alles auf einmal umgekrempelt. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, die Unternehmenskultur von "Alleswissern" zu "Alleslernern" zu verändern. Dieser subtile, aber wirkungsvolle Schritt, bei dem Empathie und Neugier im Mittelpunkt standen, setzte im gesamten Unternehmen ungeahnte Energien frei. Er löste Zusammenarbeit, Innovationskraft und Wachstum aus und beeinflusste dadurch auch Systeme, die weit über seine unmittelbare Reichweite hinausgingen. Wie ein Akupunkteur erkannte Nadella ein "festgefahrenes Muster" und nahm zum richtigen Zeitpunkt einen präzisen Eingriff vor, der die interne Dynamik und den externen Erfolg von Microsoft veränderte.

Network Leadership ist nicht nur eine externe, sondern auch eine innere Praxis

Der Gärtner und der Akupunkteur spiegeln diese inneren Rollen wider: die Kultivierung von Selbstbewusstsein, die Beseitigung überholter Gewohnheiten und die Schaffung von Raum für neue Möglichkeiten, die in uns selbst entstehen. In einer Zeit zunehmender Komplexität beginnt Führung mit der Fähigkeit, präsent zu sein, neugierig zu sein und mit dem verbunden zu bleiben, was wirklich wichtig ist.

Anstatt also eine überholte Metapher durch eine andere zu ersetzen, schlagen wir zwei sich ergänzende Metaphern vor: den Gärtner und den Akupunkteur.

Der Gärtner erinnert uns daran, dass Führung eine langfristige, geerdete Praxis ist. Es geht um Pflege, Geduld und Sorgfalt. Es geht darum, gemeinsam mit lebenden Systemen zu arbeiten und nicht darum, sie zu beherrschen. Der Akupunkteur wiederum erinnert uns daran, dass kleine, präzise Massnahmen grosse Veränderungen bewirken können, insbesondere in komplexen Systemen, in denen die Energie verknotet oder fehlgeleitet ist.

Zusammen bieten sie eine anpassungsfähigere und ehrlichere Vision von Führung – eine Vision, die der Welt entspricht, in der wir heute tatsächlich leben, und nicht einer, von der wir wünschen, sie würde noch existieren.

Wir können das Schiff nicht mehr so steuern, wie wir es in der Vergangenheit getan haben. Aber wir können lernen, auf den Boden zu achten. Wir können lernen, auf die subtilen Signale zu hören − wo Energie blockiert ist, wo sich Spannung anstaut, wo Potenzial darauf wartet, freigesetzt zu werden. Auf diese Weise können wir eine Art von Führung praktizieren, die nicht nur Probleme löst, sondern Systeme aktiviert, die andere befähigt und unser aller Leben voranbringt.

Letztlich geht es beim Thema Leadership nicht nur um das, was wir tun, sondern auch um die Metaphern, die wir mit Leben füllen: Schiffskapitän am Steuerrad − oder Gärtner und Akupunkteur. Wählewir eine, die es ermöglicht, dass wir uns persönlich entwickeln und die den Systemen, denen wir dienen, hilft, gemeinsam mit uns zu wachsen.

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