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Vertragsergänzung: Grundlagen, Definition und Grenzen

Der "perfekte" Vertrag zeigt erst in der Anwendung, wie "wasserdicht" er ist. Bestehen Lücken im Vertrag - gibt dieser also keine Antwort auf sich stellende Fragen - so können die Parteien oder gar der Richter den Vertrag um die fehlende Regelung ergänzen.

04.01.2022 Von: Matthias Streiff
Vertragsergänzung

Gesetzliche Grundlagen

Terminologie und Begriff

Vertragsergänzung

Ein Vertrag muss ergänzt werden, wenn ein im Zusammenhang mit der Vertragsabwicklung stehendes Problem von den Parteien nicht (vollständig) geregelt worden ist und hierfür auch im Gesetz keine Lösung gefunden werden kann. Die Ergänzung eines unvollständigen (lückenhaften) Vertrages wird als Vertragsergänzung bezeichnet.

Allgemeines Vorgehen

    Die Vertragsergänzung bezweckt die Ausfüllung einer Vertragslücke. Eine Vertragslücke liegt vor, wenn die Parteien eine Rechtsfrage, die den Inhalt eines Vertrages betrifft, nicht oder nicht vollständig geregelt haben (BGE 115 II 484) und diesbezüglich auch keine Gesetzesnorm anwendbar ist.

    Eine Vertragsergänzung dient nicht der Abänderung eines Vertrages oder dem nachträglichen Verschieben von Leistungspflichten.

    In erster Linie liegt es an den Vertragsparteien den lückenhaften Vertrag zu ergänzen. Können sich die Parteien nicht einigen und wird der Richter angerufen, nimmt dieser die Vertragsergänzung vor. Der Richter hat hierbei primär dispositives Recht heranzuziehen (BGE 115 II 484). Fehlt es jedoch an einer einschlägigen Lösung im dispositiven Gesetzesrecht oder verweist das Gesetz auf das Ermessen des Gerichts, so hat der Richter den Vertrag durch eine von ihm selber geschaffene Regel zu ergänzen. Der Richter ist dabei nicht vollständig frei, sondern er orientiert sich an den Rechtsbegehren der Parteien.

    Man unterscheidet folglich zwischen der Vertragsergänzung durch dispositives Gesetzesrecht und der richterlichen Vertragsergänzung.

    Vertragsergänzung durch dispositives Gesetzesrecht

    Das Gesetzesrecht dient den Verträgen als Grundlage. Zwingendes Recht will stets berücksichtigt sein, dispositives Recht widerspeigelt den Normalfall, der aber durch besondere Abrede angepasst werden kann. Regeln die Parteien etwas nicht in ihrem Vertrag, so kann man ohne Weiteres davon ausgehen, dass sie die "Lücke" durch das (zwingende und dispositive) Gesetzesrecht gefüllt wissen wollen. Es ist richtig, wenn die Parteien in ihren Verträgen möglichst nichts abschreiben, was im Gesetz steht, denn das gilt automatisch. Sie haben sich auf die Punkte zu konzentrieren, welche sie abweichend vom dispositiven Recht regeln wollen und selbstverständlich auf die Punkte, welche nicht im Gesetz geregelt sind, aber in jeden Vertrag gehören: Parteien, Leistung, Gegenleistung, Zeit, Menge und Qualität.

      Im Baugewerbe sind die Normen und Ordnungen der SIA präsent (aber nicht zwingend Usanz). Diese haben einerseits vertraglichen und andererseits technischen Charakter. Man ist versucht, die bauspezifischen vertraglichen Normen und Ordnungen der SIA (insbesondere Normen 118, 102, 103 und 108), weil sie oft gut passen und Lücken adäquat füllen würden, zur Vertragsergänzung zuzuziehen. Dabei ist jedoch festzuhalten, dass die SIA Normen und Ordnungen kein dispositives Gesetzesrecht sind, sondern den Status von AGB haben. So finden diese vertraglichen Normen der SIA keinen automatischen Eingang in die Vertragsergänzung! Wenn, dann muss der Richter überzeugt werden, dass entweder die SIA-Norm ein "Gewohnheitsrecht" sei (ZGB 1 Abs. 2) oder die Regelung der SIA auch der Regel entspricht, welche der Richter als adäquat selber finden würde. So suggeriert man, dass die SIA Regelung dem Richterrecht entspricht.

      Richterliche Vertragsergänzung

      Unter der richterlichen Vertragsergänzung ist die Ausfüllung einer Vertragslücke durch eine vom Gericht geschaffene Regel zu verstehen.

      Hierzu hat der Richter den hypothetischen Willen der Parteien festzustellen. Unter dem hypothetischen Parteiwillen versteht man das, was die Parteien nach Treu und Glauben vereinbart hätten, wenn sie die offen gebliebene Frage selber geregelt hätten. Bei der Feststellung des hypothetischen Parteiwillens hat sich das Gericht am Denken und Handeln vernünftiger und redlicher Vertragspartner sowie an Wesen und Zweck des Vertrages zu orientieren (BGE 115 II 484; BGE 111 II 260; BGE 108 II 112).

      Grenzen der Vertragsergänzung

      Sind wesentliche Punkte des Vertrages strittig, dann stellt sich die Frage, ob überhaupt ein Konsens zustande kam oder nicht (OR 1). Der Vertragsschluss bedingt Übereinstimmung der Parteien über alle wesentlichen Punkte. Deshalb ist die Vertragsergänzung an "wesentlichen" Vertragspunkten grundsätzlich nicht zulässig (Ausnahmen können vorliegen, wenn der Vertrag trotz Lücke weitgehend erfüllt wurde).

      Bei Dauerschuldverträgen (z.B. Miete, Pacht, Darlehen, Arbeit) steht nicht die Vertragsergänzung, sondern die Vertragsanpassung als Thema zur Diskussion. Der Lauf der Zeit kann veränderte Verhältnisse schaffen, welche durch den abgeschlossenen Vertrag nicht mehr gedeckt sind. Diesfalls kann ein Vertrag auf Begehren einer Partei angepasst werden (clausula rebus sic stantibus). Im Mietrecht kann der Vermieter beispielsweise einen Vertrag einseitig anpassen (OR 269d). Im Arbeitsrecht greift man zur "Änderungskündigung". Ohne gesetzliche Grundlage gilt der römisch-rechtliche Grundsatz, die "clausula rebus sic stantibus", was bedeutet, dass der Vertrag eigentlich nur unter den gleichbleibenden Umständen weiter gelten. Sollten sich die Umstände verändern, wird daher daraus gefolgert, dass auch der Vertrag angepasst werden muss. Die Vertragsergänzung ist keine Vertragsanpassung.

      Praxis

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