Mängelhaftung: Unterschiede nach OR und SIA-Norm 118

Mängelhaftung nach OR oder SIA-Norm 118? – Eine Frage, die sich bei Abschluss jedes Bauvertrags stellt. Die Wahl des Gewährleistungsregimes sollte nicht leichtfertig getroffen werden, denn es gibt bedeutsame Unterschiede zwischen der Mängelhaftung nach OR und derjenigen nach SIA-Norm 118. Der vorliegende Beitrag verschafft einen Überblick über die Mängelhaftung nach OR und SIA-Norm 118 und hebt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die wichtigsten Unterschiede hervor.

18.06.2024 Von: Sophie Bühlmann
Mängelhaftung

System der Mängelhaftung 

Nach OR 

Die gesetzliche Mängelhaftung setzt voraus, dass die Bauherrin das abgelieferte Werk prüft, sobald es nach dem üblichen Geschäftsgang tunlich ist, und den Unternehmer über allfällige Mängel sofort in Kenntnis setzt (Art. 367 Abs. 1 OR). Das Bundesgericht erachtet eine siebentägige Rügefrist grundsätzlich als angemessen, wobei jedoch stets die konkreten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind. Das Vorliegen eines Werkmangels ist die Kernvoraussetzung für den Eintritt der Mängelhaftung. Das Werk ist mangelhaft, wenn es vom Vertrag abweicht, oder bei Fehlen einer zugesicherten oder einer nach dem Vertrauensprinzip vorausgesetzten oder voraussetzbaren Eigenschaft. Rügt die Bauherrin den erkannten Werkmangel nicht unverzüglich (also innerhalb von sieben Tagen), gilt das Werk als genehmigt und die Mängelrechte sind verwirkt.

Nach SIA-Norm 118

Das Werk wird von der Bauherrin gemeinsam mit dem Unternehmer innert Monatsfrist geprüft (Art. 158 Abs. 2 SIA-Norm 118). Im Unterschied zur gesetzlichen Regelung erfolgt die Prüfung gemeinsam und vor der Abnahme des Werks. Die Abnahme ist grundsätzlich nicht gleichzusetzen mit einer Genehmigung des Werks; es sei denn, die Bauherrin verzichtet auf die Geltendmachung der von ihr bei der gemeinsamen Prüfung erkannten Mängeln (vgl. Art. 163 SIA-Norm 118). Art. 166 SIA-Norm 118 hat den gesetzlichen Mangelbegriff übernommen und konkretisiert. Anders als bei der Rügefrist nach OR hat die Bauherrin die Möglichkeit, Mängel aller Art während der Rügefrist jederzeit zu rügen (Art. 173 SIA-Norm 118). Haben die Parteien nichts anderes vereinbart, beträgt die Rügefrist zwei Jahre (Art. 172 SIA-Norm 118). 

Mängelrechte der Bauherrin

Unabhängig vom vereinbarten Gewährleistungsregime stehen der Bauherrin drei Mängelrechte zur Verfügung: Wandelung, Minderung und Nachbesserung. Ergänzend dazu hat die Bauherrin ein Recht auf Schadenersatz für Mangelfolgeschäden, sofern ein Verschulden des Unternehmers vorliegt (vgl. Art. 171 Abs. 2 SIA-Norm 118 und Art. 368 Abs. 1 und 2 OR). Während die Bauherrin bei der gesetzlichen Gewährleistung nach OR bei Vorliegen aller Voraussetzungen auswählen kann, welches Mängelrecht sie ausüben möchte, hat bei der Gewährleistung nach SIA-Norm 118 das Nachbesserungsrecht Vorrang.

Nachbesserungsrecht 

Nachbesserungsrecht nach Art. 368 Abs. 2 OR

Mit der Nachbesserung verlangt die Bauherrin die Erbringung der vertraglich versprochenen Leistung. Der Entscheid wie nachgebessert wird, obliegt dem Unternehmer; die Bauherrin kann ihm diesbezüglich keine Vorschriften machen. Die Nachbesserungskosten umfassen einerseits den Aufwand für die eigentliche Mängelbeseitigung und andererseits die damit einhergehenden Begleitkosten für Vorbereitungs- und Wiederherstellungsarbeiten sowie die Mängelbehebungsfolgekosten, wie etwa eine Ausquartierung und anderweitige Unterbringung von Hausbewohnern. Grundsätzlich gehen diese Kosten zulasten des Unternehmers.

Der Unternehmer ist zur Verweigerung der Nachbesserung berechtigt, wenn ihm diese übermässige Kosten verursachen würde. Ausgangspunkt für die Beurteilung, ob die Nachbesserungskosten als übermässig zu qualifizieren sind, ist das Interesse der Bauherrin an der Nachbesserung. Übermässige Kosten werden angenommen, wenn ein Missverhältnis besteht zwischen den voraussichtlichen Nachbesserungskosten und dem Nutzen, den die Beseitigung des Mangels der Bauherrin bringt. Nicht massgeblich ist grundsätzlich das Verhältnis zwischen Werklohn und Nachbesserungskosten; es kann jedoch ein Indiz für übermässige Kosten darstellen.

Das Bundesgericht hielt in seinem Entscheid BGer 4A_78/2020 vom 6. August 2020 fest, dass in Fällen, wo die Nachbesserung unbestritten zahlreiche unterschiedlich aufwendige Arbeiten umfasst und die diesbezüglichen Kosten das Dreifache des Werklohns ausmachen, ein Indiz übermässiger Nachbesserungskosten besteht (E. 4.8.4). 

Die Bauherrin hat grundsätzlich keinen Anspruch auf eine Neuherstellung; sie kann diese jedoch ausnahmsweise verlangen, wenn im Einzelfall eine Reparatur aus sachlichen Gründen unmöglich ist und dem Unternehmer keine übermässigen Kosten entstehen.

Nachbesserungsrecht nach Art. 169 SIA-Norm 118

Richtet sich die Mängelgewährleistung nach SIA-Norm 118, kann die Bauherrin zunächst einzig die Beseitigung des Mangels innert angemessener Frist vom Unternehmer verlangen (sog. Nachbesserung). Lässt sie den Mangel eigenmächtig oder durch einen Dritten beseitigen, ohne dem Unternehmer zuvor die Möglichkeit zur Nachbesserung eingeräumt zu haben, verliert sie damit auch ihre Ansprüche auf Wandelung oder Minderung.

Wird der Mangel nicht fristgerecht behoben, ist die Bauherrin berechtigt, weiterhin auf der Verbesserung zu beharren, den Werklohn zu mindern oder vom Vertrag zurückzutreten (Art. 169 Abs. 1 Ziff. 1 - 3 SIA-Norm 118). Bei einer ausdrücklichen Weigerung des Unternehmers oder dessen offensichtlicher Unfähigkeit zur sachgerechten Behebung des Mangels, kann die Bauherrin die übrigen Mängelrechte bereits vor Ablauf der Verbesserungsfrist ausüben (vgl. Art. 169 Abs. 2 SIA-Norm 118).

Anders als bei der gesetzlichen Nachbesserung besteht die Nachbesserungspflicht des Unternehmers zunächst unabhängig von der Höhe der Kosten. Erst wenn die Bauherrin nach erfolglosem Ablauf der Verbesserungsfrist weiterhin auf der Nachbesserung beharrt, ist der Unternehmer berechtigt, diese mit Verweis auf übermässige Kosten zu verweigern (Art. 169 Abs. 1 Ziff. 1 SIA-Norm 118).

Die Bauherrin hat grundsätzlich keinen Anspruch auf Neuherstellung des Werks. Ist die Nachbesserung aus sachlichen Gründen jedoch nicht möglich, kann sie anstelle der Nachbesserung die Neuherstellung eines mangelfreien Werkes verlangen, sofern dem Unternehmer dadurch nicht übermässige Kosten erwachsen.

Wandelung

Die Bauherrin kann die Wandelung und damit den Rücktritt vom Vertrag verlangen, wenn die Werkmängel so erheblich sind, dass ihr eine Annahme des Werks billigerweise nicht zugemutet werden kann (Art. 368 Abs. 1 OR). Die Annahme des Werks ist unzumutbar, wenn der Bauherrin unter Berücksichtigung der gegenseitigen Interessen der Parteien nach Recht und Billigkeit nicht zugemutet werden kann, das mangelhafte Werk zu behalten. Ob die Bauherrin die Wandelung verlangen kann oder bloss zu einer Minderung des Werklohns berechtigt ist, hängt von den gegenseitigen Interessen ab, welche nach Grundsätzen der Billigkeit gegeneinander abgewogen werden müssen. Auch wenn eine Möglichkeit zur Nachbesserung besteht, bedeutet dies nicht automatisch den Ausschluss des Wandelungsrechts wegen fehlender Zumutbarkeit.

Bei Werken, die auf dem Grund und Boden der Bauherrin errichtet werden und deren Entfernung aufgrund ihrer Natur nur mit unverhältnismässigen Nachteilen erreicht werden könnte, steht ihr nur das Minderungs- und Nachbesserungsrecht zu (Art. 368 Abs. 3 OR). Die Wandelung kann jedoch stets verlangt werden, wenn vom mangelhaften Werk eine Gefährdung für Leib, Leben oder Gesundheit ausgeht und verhältnismässige Schutzmassnahmen fehlen

Das Rücktrittsrecht von Art. 169 Abs. 1 Ziff. 3 SIA-Norm 118 entspricht dem gesetzlichen Wandelungsrecht von Art. 368 Abs. 1 OR.

Minderung

Weist das abgelieferte Werk einen minder erheblichen Mangel auf, kann die Bauherrin einen dem Minderwert des Werks entsprechenden Abzug am Lohn machen (Art. 368 Abs. 2 OR). Die Bauherrin ist berechtigt, die Vergütung des Unternehmers proportional zum Minderwert des Werks herabzusetzen. Die Herabsetzung erfolgt anhand der relativen Methode; die volle Vergütung ist demnach «im Verhältnis des Wertes des mängelfrei gedachten Werkes zum Wert des mangelhaften Werkes zu kürzen.»

Das Minderungsrecht in Art. 169 Abs. 1 Ziff. 2 SIA-Norm 118 entspricht dem gesetzlich geregelten Recht auf Minderung in Art. 368 Abs. 2 OR.

Schadenersatz

In Ergänzung zu den drei Mängelrechten hat die Bauherrin überdies ein Recht auf Ersatz des Mangelfolgeschadens, sofern ein Verschulden des Unternehmers vorliegt (Art. 368 Abs. 1 und Abs. 2 OR). Der Mangelfolgeschaden wird verursacht durch den Mangel und bleibt trotz Wandelung, Minderung oder Nachbesserung bestehen. Als Mangelfolgeschäden gelten etwa Erwerbs- oder Mietzinsausfälle, ein merkantiler Minderwert, vorprozessuale Anwaltskosten oder Kosten einer Prüfung durch Sachverständige etc.

Die Bauherrin hat auch gestützt auf Art. 171 SIA-Norm 118 ein Recht auf Ersatz des Mangelfolgeschadens. Die Haftung ist ebenfalls als Verschuldenshaftung ausgestaltet (vgl. Art. 171 Abs. 2 SIA-Norm 118). Die Bestimmung in Art. 171 SIA-Norm 118 entspricht der gesetzlichen Regelung.

Zusammenfassung und Praxistipps 

Die Hauptunterschiede zwischen der Gewährleistung nach OR und SIA-Norm 118 sollen hier noch einmal tabellarisch aufgezeigt werden: 

ObligationenrechtSIA-Norm 118
Sofort-Rüge-Prinzip bei Entdeckung eines Mangels (grundsätzlich siebentägige Rügefrist)Jederzeitige Mängelrüge während der Rügefrist (zwei Jahre, sofern nichts anderes vereinbart wurde)
Freie Wahl zwischen Wandelung, Minderung, NachbesserungVorrang des Nachbesserungsrechts; erst wenn Unternehmer den Mangel nicht fristgerecht beseitigt oder eine Nachbesserung verweigert, kann die Wandelung oder Minderung verlangt werden
Nachbesserung darf keine übermässigen Kosten verursachenHöhe der Nachbesserungskosten spielt grundsätzlich keine Rolle; erst wenn der Unternehmer den Mangel nicht fristgerecht behebt und die Bauherrin auf der Verbesserung beharrt, darf diese mit Verweis auf übermässige Kosten verweigert werden

Zum Abschluss soll noch auf folgende Praxistipps hingewiesen werden:

Wegbedingung der gesetzlichen Sofort-Rüge-Pflicht

Bei der gesetzlichen Mängelgewährleistung ist die Bauherrin – wie dargelegt – verpflichtet, Mängel sofort nach ihrer Entdeckung (also grundsätzlich innerhalb von sieben Tagen) zu rügen (Art. 367 Abs. 1 OR), ansonsten sie ihr Mängelrecht verwirkt. 

Unser Tipp: Vertragliche Vereinbarung, dass offene Mängel während zwei Jahren jederzeit gerügt werden können. 

Verlängerung der Verjährungsfrist für Mängel an Dach und Fassade

Die gesetzlichen Mängelrechte der Bauherrin für Mängel an unbeweglichen Werken verjähren nach fünf Jahren (Art. 371 Abs. 2 OR). Die Mängelrechte nach SIA-Norm 118 verjähren ebenfalls fünf Jahre nach Abnahme des Werks (Art. 180). Problematisch ist das insbesondere im Hinblick auf Mängel an Dächern oder Fassaden, da diese Mängel häufig erst sehr viel später zu Tage treten, sodass die Ansprüche im Zeitpunkt des Mängeleintritts bereits verjährt sind. 

Unser Tipp: Vertragliche Verlängerung der Verjährungsfrist auf 10 Jahre für Mängel an Dach und Fassade. 

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