Neurodiversität: 5 Tipps, wie Sie das Potenzial neurodiverser Teams freisetzen

Neurodiverse Talente sorgen für Innovationen, eine Vielfalt im Denken und kreative Problemlösungen im Unternehmen. Zapfen Sie klug deren Potenzial an.

04.07.2024 Von: Brigitte Miller
Neurodiversität

Neurodiverse Mitarbeiter sind längst Teil Ihres Teams 

Vielleicht wundert Sie (ein wenig) die Aussage: Neurodiverse Mitarbeiter sind längst Teil Ihres Teams. Vielleicht triggert diese Aussage auch einen schnellen gedanklichen Blick auf Ihre Mitarbeiter, gekoppelt mit der Frage: Gibt es in meinem Team Neurodiversität? Gibt es beispielsweise einen Mitarbeiter mit ADHS oder Dyslexie? Vielleicht stellen Sie bei Ihrer schnellen Analyse fest: Nein, dem ist nicht so. Vielleicht sind Sie aber unsicher, auch im Hinblick auf die Begrifflichkeit: Wer ist überhaupt neurodivers? 

Eine entscheidende Frage. Die Antwort zeigt, wie umfassend das Spektrum der Neurodiversität ist: 

  • Aufmerksamkeitsstörungen wie ADHS oder ADS
  • ASS – Autismus-Spektrumsstörung
  • Dyslexie (Legasthenie)
  • Dyskalkulie (Rechenstörung)
  • SMS (sensorische Modulationsstörung)
  • Dyspraxie (Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen)
  • Tourette Syndrom 
  • Schizophrenie
  • Bipolare Störung 
  • Hochbegabung
  • Hochsensitivität – Hochsensibilität 
  • manche zählen auch Ängste, Zwangsneurosen, Depressionen hinzu. 

Noch ein wichtiger Fakt: 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung werden als neurodivers eingestuft. So ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es in Ihrem Team mindestens einen oder mehrere neurodiverse Mitarbeiter gibt. Übrigens sind neurodiverse Menschen in allen Altersgruppen vertreten, unabhängig vom Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft. 

Neurodiversität offenbart viele Stärken und Vorteile 

Viel zu lange wurden neurodivergente Ausprägungen als Krankheiten betrachtet. Die Stärken, die jede neurodiverse Prägung beinhaltet, ausgeblendet. Leider. Langsam, aber sicher kommt es zu einem Paradigmenwechsel im Denken und Handeln: Gesellschaftlich und beruflich. 

Die vormals als Schwächen wahrgenommenen Eigenschaften neurodiverser Menschen werden als Stärken und Vorteile erkannt. Diese Eigenschaften beinhalten: 

  • ausgeprägte Empathie
  • Ehrlichkeit
  • Loyalität
  • Verlässlichkeit
  • starker Gerechtigkeitssinn
  • hohes Einfühlungsvermögen
  • ausgeprägte Reflexion, d.h. neurodiverse Menschen machen sich viele Gedanken
  • einzigartige Sichtweisen auf Fakten, Daten und Zusammenhänge, so dass traditionelle Denkmuster herausgefordert, als auch aufgebrochen werden können, um Innovationen freizusetzen
  • einzigartige Fähigkeiten und/oder Spezialkenntnisse, die von grossem Nutzen sein können, wie beispielsweise bei Menschen mit Autismus, die oft sehr detailorientiert denken
  • aussergewöhnliches Verständnis und Gespür für Gruppendynamiken 
  • schneller Erwerb von Wissen, das aus dem Stegreif abgerufen werden kann
  • engagiertes Arbeiten 
  • hohe intrinsische Motivation 
  • hohes Qualitätsbewusstsein
  • ausgeprägte Kreativität, die nicht selten neue Ideen und Konzepte erarbeitet 
  • Bereicherung der Teams. Denn neurodiverse Teams, so zeigen Studien, 
    • verfügen über eine höhere kollektive Intelligenz,
    • stellen sich besser auf Herausforderungen ein,
    • treffen qualitativere Entscheidungen, 
    • arbeiten 30 Prozent effektiver,
    • verfügen über eine nachweislich bessere Zusammenarbeit und Produktivität. 

Neurodiverse Teams führen: 5 Tipps, um deren Potenzial freizusetzen 

Allerdings – und dies ist der Haken – aktivieren sich diese Stärken nicht von allein. Die Rahmenbedingungen der Teamarbeit müssen stimmen. Als Führungskraft haben Sie auf diese Einfluss. Nutzen Sie Ihren Einfluss, um die Weichen für eine gute Zusammenarbeit neurodiverser Teams zu stellen. 

Tipp 1: Stereotypen verabschieden 

Trotz langsamem Paradigmenwechsel haben sich über viele Jahre, gar Jahrzehnte Vorurteile in den Köpfen festgesetzt. Und diese lassen sich nicht einfach über Nacht umstellen, gar abschalten. Die Folgen sind: 

  • Missverständnisse, 
  • falsche Einschätzung des Teamkollegen und seiner Fähigkeiten,
  • Stigmatisierung,
  • Ausgrenzung, 
  • schlechte Zusammenarbeit,
  • Beeinträchtigung des Wohlbefindens aller Teammitarbeiter,
  • mangelhafte Integration neurodiverser Menschen. 

Bieten Sie deshalb Fachliteratur zu diesem Thema. Ermöglichen Sie Schulungen, die von Verbänden und Beratungsstellen, die auf Neurodiversität spezialisiert sind, durchgeführt werden. Bauen Sie durch einen besseren Kenntnisstand Vorurteile ab. Hinterfragen Sie gemeinsam „alte“ Sichtweisen, ohne diese zu bewerten oder zu verurteilen. Diskutieren Sie Erfahrungen, die vielleicht zu einer negativen Sichtweise geführt haben. Und überlegen Sie gemeinsam, was daraus gelernt werden kann, um einen positiveren Umgang zu eröffnen. 

Tipp 2: Abläufe und Arbeitsstrukturen überdenken – und neu gestalten 

Abläufe und Arbeitsstrukturen dienen der erfolgreichen Zusammenarbeit. Beides bietet einen Rahmen, an dem sich jeder Mitarbeiter orientiert. Und – ganz wichtig -, die immer wieder angepasst wurden. Vielleicht, um Arbeitsprozesse zu optimieren. Vielleicht, um neue Produktlinien zu integrieren. Vielleicht, um die digitale Transformation voranzutreiben.

Sie, Ihre Mitarbeiter und das Unternehmen überdenken somit immer wieder bestehende Abläufe und Arbeitsstrukturen. Eine Fähigkeit, die Sie gemeinsam für die Inklusion neurodiverser Mitarbeiter aktivieren dürfen. Denn neurodiverse Mitarbeiter benötigen oft flexiblere 

  • Arbeitsstrukturen, um die Arbeit ihren Bedürfnissen entsprechend eigenständig einteilen zu können, 
  • Pausenregelungen, um sich beispielsweise bei einer hohen Reizüberflutung, die zu Stress und Leistungsabfall führen kann, zurückziehen zu können,
  • Abläufe, um eine Balance zwischen Qualitätsbewusstsein und eigener Belastungsgrenze auszuloten. 

Überprüfen Sie unter diesen Aspekten die bestehenden Abläufe und Arbeitsstrukturen. Klären Sie, wo, wann und auf welche Weise ein Mehr an Flexibilität ermöglicht werden kann – und zwar für alle Mitarbeiter. Denn jeder profitiert davon. 

Tipp 3: Bedürfnisse im Fokus 

Neurodiversität eröffnet viele Stärken und Vorteile. Allerdings auch so manche Schwäche, die unbedingt beachtet werden muss: Mitarbeiter mit 

  • Dyslexie sind vielleicht bei dem Schreiben eines Dossiers überfordert,
  • Dyskalkulie können vielleicht eine unübersichtliche Excel-Tabelle schwer bearbeiten,
  • ADHS können bei gleichbleibendem Aufgabenbereich in ihrer Leistung abfallen,
  • Hochsensitivität geraten in einer offenen Büroumgebung mit vielen visuellen und akustischen Reizen unter hohen Stress, was ihre Produktivität stark beeinträchtigen kann. 

Behalten Sie dies bei der Delegation von Aufgaben im Fokus. Besprechen Sie auch die individuellen Bedürfnisse. Bieten Sie entsprechende Lösungen an, wie beispielsweise Noise-Cancelling-Kopfhörer oder Speech-to-Text-Software an. 

Tipp 4: Kommunikation anpassen  

Viele neurodivergente Menschen profitieren von festen Ansprechpartnern – auch innerhalb des Teams, klaren Anweisungen und dem Wissen, welche Erwartungen an sie gestellt werden. Im Grunde drei Minimalanforderungen, die jedoch im Arbeitsalltag oft scheitern. Denken Sie nur an die vielen Meetings, die oft zu keinem präzisen Ergebnis führen. Oder an die vielen Kommunikationswege, wie Telefon, E-Mail, Intranet, Team-Chats, die heutzutage genutzt werden, die neurodiverse Menschen jedoch in der Priorisierung und Filtern der Informationen oft überfordern. 

Sorgen Sie deshalb für 

  • klare Kommunikationswege, d.h. welche Informationen werden über welche Kanäle vermittelt, 
  • einen festen Ansprechpartner, der für Rückfragen und Klärung kontaktiert werden kann,
  • eine inklusive Sprache, d.h. fragen Sie, ob der neurodiverse Mensch Humor, Metaphern oder Sarkasmus mag, als auch versteht. Denn so manches Mal werden umgangssprachliche Redewendungen wie „Die Katze aus dem Sack lassen“ wörtlich verstanden bzw. im Kontext des Gespräches eben nicht verstanden. 

Tipp 5: Gegenseitige Achtsamkeit erhöhen

Sich füreinander öffnen, ist in jedem Team sinnvoll. Bei Teams mit neurodiversen Teamkollegen ganz besonders, um einen wertschätzenden Umgang zu ermöglichen. Eine gegenseitige Achtsamkeit ist dafür wünschenswert. Eine Achtsamkeit, die

  • sich selbst beinhaltet: Unter welchen Bedingungen kann ich mich gut konzentrieren? Was zieht mir an der aktuellen Arbeitsumgebung Energie? 
  • den Teamkollegen beachtet: Wann wirkt er gestresst? Wann ist er im Flow? Was benötigt er von mir/dem Team, damit seine Leistung stimmt?
  • die Neurodiversität im Fokus behält: Was kann ich von dem neurodiversen Menschen lernen? Was fällt mir schwer, zu akzeptieren? Wann wünsche ich mir mehr Rücksicht von ihm? Was kann ich von neurotypischen Menschen lernen? 
  • das Team betrachtet: Wann arbeiten wir gut zusammen? Was ist uns gut gelungen – und wie gelang uns dies? Wie können wir gut für uns sorgen? Wie unsere Arbeit erleichtern? 
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