Kündigung von älteren und langjährigen Mitarbeitenden: Rechtsprechung zur erhöhten Fürsorgepflicht
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Allgemeine Ausführungen zur Kündigung von älteren und langjährigen Mitarbeitenden
In der Schweiz gilt im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis grundsätzlich das Prinzip der Kündigungsfreiheit. Das heisst, die Vertragsparteien dürfen jederzeit unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist kündigen, ohne dass es dafür einen sachlichen Grund braucht (fristlose Kündigungen werden in diesem Beitrag nicht beleuchtet). Trotz bestehender Kündigungsfreiheit gibt es gewisse gesetzliche Einschränkungen. So sind einerseits Sperrfristen zu beachten, was bedeutet, dass eine Kündigung während gewisser Sperrzeiten (Krankheit, Unfall, Schwangerschaft etc.) nicht ausgesprochen werden kann. Andererseits ist die Kündigung auch nicht erlaubt, wenn sie gegen Treu und Glauben verstösst. Das Gesetz enthält einen Katalog von Gründen, welche eine ausgesprochene Kündigung missbräuchlich machen können. Mit Bezug auf ältere Mitarbeitende, welche länger bei einem Arbeitgebenden angestellt sind, hat die Rechtsprechung über das Gesetz hinaus diverse Regeln aufgestellt, die zu beachten sind, welche zur sogenannten erhöhten Fürsorgepflicht geführt haben. Bei Missachten dieser Regeln kann ebenfalls eine Missbräuchlichkeit vorliegen.
Bundesgerichtliche Rechtsprechung im Zusammenhang mit Kündigungen von Arbeitgebenden von «älteren und langjährigen Mitarbeitenden»
Bei der Kündigung von älteren und langjährigen Mitarbeitenden gilt gemäss Bundesgericht die erhöhte Fürsorgepflicht. Für Arbeitgebende heisst dies, dass sie bei einer Kündigung dieser Arbeitnehmerkategorie besonders vorsichtig vorgehen müssen (Gebot der schonenden Rechtsausübung). Aus dieser erhöhten Fürsorgepflicht leitet das Bundesgericht diverse Handlungsanweisungen für die Arbeitgebenden ab:
- Arbeitgebende haben Arbeitnehmende rechtzeitig über die beabsichtigte Kündigung zu informieren und anzuhören.
- Arbeitgebende sind verpflichtet, nach Lösungen zu suchen, welche es erlauben, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen (BGer 4A_384/2014 vom 12.11.2014) und eine Kündigung vermeiden zu können. Dies kann geschehen durch Einzel- und Gruppengespräche, Fristansetzung und Zielvereinbarungen, ein Coaching, eine Fortbildung, eine Vereinbarung von konkreten Verhaltensweisen oder ähnlichen Massnahmen (Urteil 1C_245/2008 vom 2.3.2009). Nur wenn diese Massnahmen nicht fruchten und der Arbeitgebende seiner erhöhten Fürsorgepflicht nachgekommen ist, soll die Kündigung als letzter Ausweg erfolgen und gilt nicht als missbräuchlich.
Wann Arbeitgebende eine erhöhte Fürsorgepflicht haben, legt das Bundesgericht nicht eindeutig fest. Wer gilt als älterer Mitarbeiter, und wer gilt als langjährig tätig? Eine klare Antwort ist nicht ersichtlich, jedoch kann aufgrund der verschiedenen bisher gefällten Gerichtsentscheide von folgender Faustregel ausgegangen werden:
Personen ab dem 55. Altersjahr fallen in diese Kategorie der älteren Arbeitnehmenden. Angestellte, welche zwischen sechs und 20 Jahren und länger bei einem Unternehmen gearbeitet haben, gelten als langjährig.
Relativierung der Rechtsprechung
In jüngster Zeit hat sich das Bundesgericht verschiedentlich zur erhöhten Fürsorgepflicht geäussert und diese relativiert. Das Bundesgericht hält fest, dass die Frage immer einzelfallbezogen zu betrachten ist, was sicherlich zu begrüssen ist.
Im Entscheid BGer-Urteil 4A_186/2022 vom 22. August 2022 ging es um die Frage der Missbräuchlichkeit einer Arbeitgeberkündigung gegenüber einem älteren Mitarbeiter. Vorliegend waren jedoch nicht nur das Alter und die Dienstzeit, sondern auch die Art und Weise der Kündigung und die Freistellung ein Thema.
Zu beurteilen war die Kündigung eines 57-jährigen «Chief Executive Officer/CEO» (mit 14 Dienstjahren) durch die Arbeitgeberin. Als Kündigungsgrund nannte die Arbeitgeberin, dass das bisherige System mit drei Führungskräften zugunsten einer Struktur mit nur zwei Personen aufgegeben werden sollte. Nach Aussprechen der Kündigung wurde dieser freigestellt und die Kündigung nach aussen kommuniziert. Der Arbeitnehmer machte geltend, die Kündigung sei erfolgt, weil er sich über die unkorrekte und problematische Bevorzugung einzelner Personen beschwert hatte, und machte die Missbräuchlichkeit der Kündigung geltend. Die Vorinstanz anerkannte die Missbräuchlichkeit. Begründet wurde sie nicht mit dem Alter und der vorhandenen Dienstzeit; zudem hatte der Arbeitnehmer diesbezüglich keine besonderen Nachteile geltend gemacht. Vielmehr erachtete die Vorinstanz die Art und Weise der Kommunikation im Zusammenhang mit der Kündigung als persönlichkeitsverletzend. Auch war die Verletzung der Fürsorgepflicht im konkreten Fall durch die Vorinstanz bejaht worden.
Keine Alterskündigung festgestellt
Das Vorliegen einer Alterskündigung bzw. der Verletzung des notwendigen Vorgehens bei einer Alterskündigung hat das Bundesgericht verneint. Zu diesem Schluss kam es aufgrund einer Einzelfallbetrachtung. Das Bundesgericht prüfte allerdings, ob die Art der Verabschiedung des Arbeitnehmers zur Missbräuchlichkeit geführt habe. Insbesondere ging es also um die Frage, ob die Freistellung und die erfolgte Kommunikation derart verletzend waren, dass eine Missbräuchlichkeit angenommen werden dürfe. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass weder die Kommunikation noch die Freistellung im konkreten Einzelfall als problematisch anzusehen waren. Insbesondere mit Bezug auf die Freistellung hielt es fest, dass diese in der heutigen Zeit im Rahmen von Umstrukturierungen bei Spitzenpositionen nicht unüblich sei. Die Beschwerde der Arbeitgeberin wurde gutgeheissen und das Urteil der Vorinstanz aufgehoben.
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Nach krankheitsbedingter Abwesenheit gekündigt
Im Entscheid 4A_390/2021 vom 1. Februar 2022 wurde die erhöhte Fürsorgepflicht ebenfalls relativiert. In diesem Fall hatte eine Arbeitnehmerin die Missbräuchlichkeit der Kündigung geltend gemacht. Sie bezog sich auf die bisherige Rechtsprechung und machte eine nicht gerechtfertigte Alterskündigung geltend. Sie war zum Zeitpunkt der Kündigung bereits mehr als 14 Jahre bei der Arbeitgeberin tätig gewesen und stand etwa zehn Monate vor der Pension. Allerdings war die Arbeitnehmerin zum Zeitpunkt der Kündigung bereits mehr als sechs Monate krankheitsbedingt abwesend gewesen. Die Arbeitgeberin hatte die Arbeitnehmerin mehrfach aufgefordert, ihr Informationen über ihren Gesundheitszustand anzugeben und ihr insbesondere mitzuteilen, wann sie die Stelle wieder antreten könne. Die Arbeitnehmerin unterliess es, der Arbeitgeberin die gewünschten Informationen abzugeben.
Das Bundesgericht hielt fest, dass eine Kündigung nach Ablauf der Sperrfristen erlaubt sei, dies entgegen der Auffassung der Vorinstanz. Im konkreten Fall argumentierte das Bundesgericht weiter, dass keine erhöhte Fürsorgepflicht der Arbeitgeberin bestehe, wenn die Arbeitnehmerin eine Stelle besetzt, die einer Reorganisation unterworfen ist. Ausserdem war die Arbeitnehmerin bereits sechs Monate abwesend gewesen, und es gab keinerlei Hinweise darauf, wann die Arbeit wieder aufgenommen werden könnte. Die Tatsache, dass die Arbeitnehmerin kurz vor der Pension stand, konnte am Entscheid des Bundesgerichts nichts ändern. Da nicht ersichtlich war, ob und wann die Arbeitnehmerin wieder zur Arbeit erscheinen würde, konnte die Arbeitgeberin nicht verpflichtet werden, das Arbeitsverhältnis fast ein weiteres Jahr aufrechtzuerhalten, um allfällige negativen Konsequenzen auf die Altersrente zu verhindern.
Weiterbeschäftigung des Geschäftsführers nicht möglich
In einem anderen Entscheid BGer 4A_44/2021 vom 2. Juni 2021 musste sich das Bundesgericht mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die Entlassung eines CEO missbräuchlich war. Dies wurde zunächst von den kantonalen Gerichten bejaht, vom Bundesgericht aber verneint.
Das Bundesgericht kritisierte, die Vorinstanz habe zu Unrecht einzig das Alter und die lange Dienstzeit des Arbeitnehmers isoliert berücksichtigt und daraus spezifische Pflichten der Arbeitgeberin abgeleitet. Die Vorinstanz sei jedoch nicht auf die spezifische Stellung des Arbeitnehmers innerhalb des Unternehmens eingegangen. Der Arbeitnehmer war gemäss den unbestrittenen vorinstanzlichen Feststellungen Verwaltungsratsmitglied und Vorsitzender der Geschäftsleitung gewesen. Es habe sich somit nicht um einen «normalen» Arbeitnehmer gehandelt. Er sei Geschäftsführer gewesen, habe erhebliche Entscheidungskompetenzen gehabt und eine grosse Verantwortung getragen. Die Arbeitgeberin habe daher, so das Bundesgericht, zu Recht geltend gemacht, sie sei grundsätzlich nicht verpflichtet gewesen, mit dem Vorsitzenden der Geschäftsleitung nach alternativen Lösungen zu einer Kündigung zu suchen. Dies würde zudem voraussetzen, dass das Arbeitsverhältnis überhaupt in irgendeiner Form weitergeführt werden könnte. Bei einem Vorsitzenden der Geschäftsleitung dürfte sich eine Weiterbeschäftigung im Unternehmen in einer anderen Form, zum Beispiel in einer Unterabteilung, eher schwierig gestalten, wie die Arbeitgeberin zu Recht ausgeführt habe. Das Bundesgericht gelangte daher zum Schluss, die Kündigung sei nicht missbräuchlich.
Würdigung
Die Relativierung der Rechtsprechung zur erhöhten Fürsorgepflicht wird in der Praxis begrüsst. Dennoch ist eine abschliessende Beurteilung von Praxisfällen schwierig, da die Entscheide immer einzelfallbezogen gesprochen werden. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass eine Kündigung eines älteren und länger angestellten Mitarbeitenden nicht zwingend immer missbräuchlich sein muss. Ein absoluter Kündigungsschutz für diese Arbeitnehmerkategorie besteht weiterhin nicht, und der Grundsatz der Kündigungsfreiheit bleibt bestehen. Arbeitgebende sind jedoch gut beraten, bei der Kündigung von älteren und langjährigen Mitarbeitenden Zurückhaltung zu üben und die geforderte erhöhte Fürsorgepflicht zu wahren.