4-Tage-Woche: Unrealistische Vision oder Arbeitsmodell der Zukunft?
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Die Arbeitswelt befindet sich im Zeitalter der Digitalisierung im ständigen Wandel. Während ortsunabhängiges Arbeiten in vielen Unternehmen heute weit verbreitet ist, stand eine zentrale Komponente bisher kaum zur Debatte: die Arbeitszeit. Mit dem Aufkommen der 4-Tage-Woche wurde die Diskussion um eine Anpassung der Arbeitszeit nun aber lanciert. Die Vorteile dieses Arbeitsmodells scheinen bei Weitem zu überwiegen, obwohl es auch ein paar Nachteile gibt. Internationale Pilotprojekte aus Island, Japan und Grossbritannien zeigen, dass sich die 4-Tage-Woche sowohl für Unternehmen wie auch für Mitarbeitende gleichermassen lohnt. In der Schweiz ist die 4-Tage-Woche aber ein Randphänomen: Kaum mehr als zwei Dutzend Unternehmen haben das neue Arbeitsmodell bisher eingeführt.
Das Institut New Work am Departement Wirtschaft der Berner Fachhochschule hat untersucht, ob und wie eine Implementierung der 4-Tage-Woche in der Schweiz umsetzbar ist und welche Rahmenbedingungen dafür erfüllt sein müssen. Hierfür wurden sieben Interviews mit Geschäftsführer*innen und HR-Verantwortlichen von Schweizer Unternehmen, die das Arbeitsmodell bereits eingeführt haben oder eine Implementierung zumindest beabsichtigen, sowie mit drei Expert*innen der Arbeits- und Organisationspsychologie geführt. Zu den befragten Unternehmen gehören kleinere Unternehmen aus der Kreativ-und Digitalbranche, ein Produktionsbetrieb für Nägel, ein Ofenbauunternehmen und ein Coiffeursalon.
Zwei Varianten: Reduktion oder Verdichtung der Arbeitszeit
Die Absicht der 4-Tage-Woche liegt auf der Hand. Die bisherige konventionelle Arbeitswoche reduziert sich von bisher fünf auf künftig nur noch vier Arbeitstage. Bei der Implementierung unterscheidet man zwischen zwei Varianten. Bei Variante 1 wird die bisherige Arbeitszeit anstatt in fünf nur noch in vier Tagen geleistet, wobei die Höhe der Arbeitszeit beibehalten wird, was einer Verdichtung gleichkommt. In der Praxis bedeutet das, dass sich die Arbeitszeit pro Arbeitstag beispielsweise von acht auf zehn Stunden erhöht, also Arbeitnehmende den zusätzlichen freien Tag praktisch vorarbeiten. Für einzelne Arbeitnehmende und in gewissen Branchen mag diese Variante durchaus funktionieren. Sie steht aber grundsätzlich in starkem Kontrast zur Ausgangsidee der 4-Tage-Woche, die eine Reduktion der Arbeitszeit vorsieht. Bei Variante 2 arbeiten Arbeitnehmende nämlich effektiv nur vier Tage die Woche, d.h. beispielsweise 32 anstatt 40 Stunden. Obwohl Arbeitnehmende damit weniger Arbeitsstunden leisten, rechnet sich diese Variante auch für die Unternehmen. Von den sieben befragten Unternehmen in der Schweiz haben sich fünf für eine Reduktion der Arbeitszeit entschieden. In einem Unternehmen wurde die Arbeitszeit verdichtet, bei einem Unternehmen befand sich das Projekt erst noch in der Planungsphase.
Mehr freie Zeit führt zu höherer Produktivität
Entgegen der Annahme, dass weniger Arbeitszeit automatisch weniger Produktivität bedeutet, haben Studien zu Auswirkungen der 4-Tage-Woche nachgewiesen, dass sich die Produktivität von Arbeitnehmenden mit verkürzter Arbeitszeit gar verbessert. Da Arbeitnehmende über mehr freie Zeit verfügen, verbessert sich in der Regel ihre Work-Life-Balance, wodurch sie grundsätzlich ausgeruhter und zufriedener sind und seltener krankheitsbedingt bei der Arbeit fehlen. Dass zufriedene und gesunde Arbeitnehmende sich positiv auf die Produktivität eines Unternehmens auswirken, ist hinlänglich bekannt. In den befragten Unternehmen kompensierte der gewonnene Produktivitätszuwachs schlussendlich die Reduktion der Arbeitszeit, wie auch der Geschäftsführer eines Coiffeursalons bestätigt, der befragt wurde: «Wieso sollten Mitarbeitende fünf Tage arbeiten, wenn sie den gleichen Umsatz auch in vier Tagen generieren können?»
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Ineffiziente Arbeitsprozessewerden aufgedeckt
Unternehmen profitieren bei einer Reduktion der Arbeitszeit aber nicht nur von einer verbesserten Produktivität ihrer Mitarbeitenden, sondern auch von einer nachhaltigen Prozessoptimierung. Weil die Arbeit in kürzerer Zeit erledigt wird, werden fehlende und ineffiziente Prozesse einfacher sichtbar und lösen einen Anpassungsprozess bzw. systemischen Wandel aus. Denn: «Effizienz lässt sich nicht nur dadurch steigern, dass Leute schneller arbeiten, sondern auch indem man sich fragt: Ist das, was wir tun, sinnvoll?», erläutert ein Experte für Arbeits- und Organisationspsychologie.
Auf Unternehmensseite erfordert dies die Bereitschaft für weitreichende Veränderungen, die meist an zeitliche und finanzielle Ressourcen gebunden sind. So ist eine Reduktion der Arbeitszeit beispielsweise für einen Coiffeursalon gleichbedeutend mit der Anpassung seiner personellen Einteilung, sofern er seine Dienstleistung weiterhin an fünf oder gar sechs Tagen die Woche anbieten will. Die sich daraus ergebende Neuverteilung und -interpretation der Rollen bei den Mitarbeitenden stellt einerseits zwar eine Herausforderung, andererseits aber auch eine Chance dar, insbesondere, wenn das Modell zu effizienteren Prozessabläufen, mehr Transparenz und einer besseren Verteilung der Kompetenzen unter den Mitarbeitenden führt.
4-Tage-Woche als Wettbewerbsvorteil
Darüber hinaus ist die 4-Tage-Woche für Unternehmen ein starkes Alleinstellungsmerkmal gegenüber der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, wie auch ein befragter Geschäftsführer einer Webdesign-Agentur betont: «Weil es noch nicht so verbreitet ist, hat man einen unvergleichlichen Wettbewerbsvorteil.» In vielen Berufszweigen herrscht ein grosser Fachkräftemangel, der oft auf eine Diskrepanz zwischen der Erwartungshaltung von Arbeitnehmenden und den effektiv vorherrschenden Arbeitsbedingungen seitens der Unternehmen zurückzuführen ist. Die 4-Tage-Woche erzielt bei der Rekrutierung von Fachkräften zumindest gegenwärtig eine gewisse Attraktivität und kann dazu beitragen, junge Talente längerfristig ans Unternehmen zu binden.
Eine Pilotphase liefert erste Erkenntnisse
Basierend auf den Erfahrungen der befragten Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen wird deutlich, dass die 4-Tage-Woche grundsätzlich überall funktionieren könnte – wenn man die individuellen Rahmenbedingungen der Unternehmen berücksichtigt. Doch wie lässt sich der Wechsel von der 5- auf die 4-Tage-Woche am besten vollziehen?
Von den befragten Unternehmen haben sich fast alle für eine Implementierung über eine mehrmonatige Pilotphase entschieden. Der Vorteil einer Testphase ist, dass Unternehmen dem Modell vorläufig einen provisorischen Charakter zuweisen und sich damit die Zeit geben, Erfahrungswerte zu sammeln, Fehler zu korrigieren und nötigenfalls zum ursprünglichen Arbeitsmodell zurückzukehren. Eine Abkehr von der 4-Tage-Woche war bisher jedoch für keines der befragten Unternehmen eine Option: Zu gross seien die messbaren positiven Effekte sowohl für das Unternehmen als auch für die Mitarbeitenden. Zur Implementierung meint der Geschäftsführer der Webdesign-Agentur: «Einerseits sind wir stolz, dass die 4-Tage-Woche funktioniert, andererseits sind wir auch ein wenig frustriert, dass wir es nicht schon viel früher so gemacht haben.»
Alle befragten Unternehmen sind sich darüber hinaus einig: Die 4-Tage-Woche erzielt den grössten Nutzen, wenn Variante 2, also eine Reduktion der Arbeitszeit ohne Lohneinbussen, implementiert wird. Ferner wirkt sich bei der Ausgestaltung das Ausmass an Flexibilität, welches man Mitarbeitenden bei der Einteilung ihrer Arbeitszeit gewährt, positiv auf den Erfolg des Arbeitsmodells aus. Einheitliche Modelle, wie beispielsweise derselbe freie Tag für alle, werden den individuellen Bedürfnissen von Mitarbeitenden in den wenigsten Fällen ausreichend gerecht.
Auch eine Frage der Unternehmenskultur
Gemessen an den überwiegend positiven Studienergebnissen und Erfahrungen der befragten Unternehmen dürfte man davon ausgehen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sich die 4-Tage-Woche als Arbeitsmodell in der Schweiz durchsetzen wird. Die Realität sieht gegenwärtig allerdings anders aus. Dass die 4-Tage-Woche aktuell höchstens eine Randnotiz darstellt, hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass die Veränderung, die sie hervorruft, weit über die Modellierung eines neuen Arbeitsmodells hinausgeht: Sie setzt eine wandlungsbereite Unternehmenskultur voraus. Ein zentraler Aspekt dieser Kultur besteht in der Fähigkeit, Rollen neu zu denken und fest verankerte Wertehaltungen bezüglich der Arbeit an sich aufzubrechen. Führungskräfte, die 140% arbeiten und die alleinige Entscheidungskompetenz auf sich vereinen wollen, sind mit der 4-Tage-Woche genauso wenig kompatibel wie Unternehmen, deren Geschäftsmodell vordergründig auf Arbeitszeit und Kontrolle anstatt auf Output und Vertrauen basiert.
Fazit: Mehr als nur ein Arbeitsmodell
Die 4-Tage-Woche verspricht viel und kann, sofern von Unternehmen zielgerichtet umgesetzt, auch mess- und sichtbare Erfolge vorweisen. Ob die 4-Tage-Woche das Arbeitsmodell der Zukunft sein wird, hängt von unserer Bereitschaft zur Neuinterpretation der Arbeit ab. Sie steht sinnbildlich für einen weitreichenden Kulturwandel, nicht nur auf individueller und betriebswirtschaftlicher Ebene, sondern ganz allgemein bezüglich der Frage, wie wir Arbeit in Zukunft definieren wollen. Sind wir – als Gesellschaft – für diesen Wandel schon bereit?
Weiterführende Informationen
- Gatlin-Keener, C. & Lunsford, R., (2019). «Four-Day Workweek: The Microsoft Japan Experience.» Fallstudie, Japan.
- Gudmundur, H. D., & Kellam, J., (2021). Going Public: Island’s Journey to a Shorter Working Week. Fallstudie, Island: Alda & Autonomy.
- 4 Day Week Global Foundation, (2022). Assessing global trials of reduced work time with no reduction in pay. Fall studie, Grossbritannien.