Präsentismus: Arbeiten, obwohl man krank ist

Bei Krankheit zu Hause zu bleiben, ist für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht selbstverständlich. Aus gutem Willen erledigen manche ihre Arbeitsaufgaben auch dann, wenn sie sich gesundheitlich nicht wohl fühlen. Diese Arbeitsmoral kann jedoch unerwünschte Nebenwirkungen haben.

13.02.2024 Von: Jörg Eigenmann
Präsentismus

Präsentismus

Vorgesetzte und Personalverantwortliche kennen das Phänomen nur zu gut: Mitarbeitende melden sich kurzfristig krank und erscheinen ein, zwei Tage später wieder am Arbeitsplatz. Dieser Vorgang wiederholt sich mit zuverlässiger Regelmässigkeit. Dringende Aufgaben müssen dann innerhalb der Teams verteilt werden – die nachrangigen Prioritäten bleiben unerledigt. Viele Unternehmen haben das Problem mittlerweile erkannt und rücken häufigen Kurzabsenzen mit geeigneten Massnahmen zu Leibe – etwa mit einem systematischen Absenzmanagement. Das Gegenteil ist für viele Personalverantwortliche aber noch kein Thema: Mitarbeitende, die trotz Krankheitssymptomen zur Arbeit erscheinen. Woher kommt dieser Eifer und wie geht man damit um?

Präsentismus ist keine Randerscheinung

Eine repräsentative Umfrage des Dachverbandes der Arbeitnehmenden, Travail.Suisse, liefert Zahlen zum Präsentismus (siehe Tabelle). Demnach erschienen im Jahr 2022 über ein Viertel der befragten Mitarbeitenden zur Arbeit, obwohl sie krank waren (26,3%). Der häufigste Grund: Die Sorge, andere Teammitglieder müssten zusätzliche Aufgaben übernehmen (42,3%), gefolgt von der Befürchtung, die Arbeitsaufgaben blieben unerledigt (38.9%). Ein Viertel der Mitarbeitenden möchte nicht als leistungsunwillig gelten (24,9%). Und fast jeder fünfte Mitarbeitende glaubt, er oder sie würde im Krankheitsfall der Täuschung bezichtigt (18,3%).

Anwesend, aber doch nicht da

Auf den ersten Blick ist Präsentismus hehren Motiven geschuldet. Ein ausgeprägtes Pflichtgefühl und Teamorientierung erklären, weshalb Mitarbeitenden die Aufgabenerfüllung wichtiger ist, als im Bett zu bleiben und die Krankheit auszukurieren. Es liegt aber auf der Hand, dass gesundheitlich angeschlagene Mitarbeitende kaum leistungsfähig und damit auch weniger produktiv sind. Wenn der betriebliche Nutzen einer Anwesenheit mit triefender Nase und Kopfschmerzen vernachlässigbar ist, muss es dafür noch andere Gründe geben als der Leistungswillen der Mitarbeitenden.

Tatsächlich haben vor allem die Unternehmens- und Teamkultur einen massgeblichen Einfluss darauf, wie sich Mitarbeitende im Krankheitsfall verhalten. Gibt es einen breiten Konsens darüber, dass die Gesundheit und damit das Wohlbefinden der Mitarbeitenden Vorrang hat – und es absolut in Ordnung ist, bei Krankheit zu Hause zu bleiben? Wird diese Haltung explizit kommuniziert und auf allen Hierarchiestufen gelebt? Oder wird den Mitarbeitenden eher vermittelt, dass sich auch mit Halsweh und Gliederschmerzen die dringendsten Aufgaben erledigen lassen und eine Magenverstimmung zwar ein Grund ist, auf das Mittagessen zu verzichten – aber keinesfalls eine Entschuldigung, dem Team-Meeting fernzubleiben?

Produktivitätsverlust durch Präsentismus

Es ist unbestritten, dass Präsentismus ernstzunehmende Folgen hat. Für die Mitarbeitenden selbst, aber auch für das Unternehmen. Erstens können sich Krankheiten chronifizieren, wenn sich betroffene Mitarbeitende nicht schonen. Das kann im schlimmsten Fall zu einer dauerhaften Arbeitsunfähigkeit führen. Zweitens riskieren Mitarbeitende, die mit einem Schnupfen oder einer Grippe am Arbeitsplatz erscheinen, Kolleginnen und Kollegen anzustecken. Das kann den Ausfall eines bedeutenden Teils der Belegschaft nach sich ziehen. Und drittens erhöht sich das Sicherheitsrisiko, zumal bei Unkonzentriertheit leichter Arbeitsunfälle passieren.

Zudem verursacht die Performance kranker Mitarbeitenden direkte Kosten in beträchtlicher Höhe. Der Produktivitätsverlust infolge Präsentismus ist nämlich signifikant höher ist als beim Gegenteil, dem Absentismus: Ganze 5 Milliarden Franken gehen der Wirtschaft jährlich verloren, weil kranke Mitarbeitende nur eingeschränkt leistungsfähig sind (Obsan 2024).

Handlungsbedarf identifizieren, Massnahmen umsetzen

Wie sollen Unternehmen also mit Präsentismus umgehen? Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, was man genau unter Präsentismus fasst. Meint man damit die schlichte Tatsache, dass Mitarbeitende krank zur Arbeit erscheinen, ist es naheliegend, den Genesungsprozess, also Absentismus zu fördern. Weitet man den Blick und betrachtet Präsentismus im Kontext der evidenzbasierten Medizin und Prävention, dann kann ein vordringliches Ziel auch lauten, Mitarbeitende mit gesundheitlichen Einschränkungen im Arbeitsprozess zu begleiten. So wird beispielsweise bei Rückenschmerzen von Arbeitsruhe abgeraten; ebenso ist bei psychischen Erkrankungen ein möglichst langes Verweilen am Arbeitsplatz bzw. eine zügige Wiederaufnahme der Arbeit für den Heilungsprozess förderlich. Und wenn man Präsentismus und Absentismus als gesundheitliches Gesamtpaket begreift, dann werden die Präventionsempfehlungen den Ausbau der betrieblichen Gesundheitsförderung nahelegen. 

Unabhängig davon, worauf man den Fokus legt, lassen sich diese Empfehlungen formulieren:

  • Einsichten fördern und Gesundheitskompetenz verbessern: Mitarbeitende, deren exzessiv-zwanghafter Arbeitsstil zu Präsentismus führt, sollten für ihr Verhalten und die Auswirkungen sensibilisiert werden. Das kann mit Beratungen zu Stressbewältigung, Gesundheitscoaching oder Achtsamkeitskursen geschehen.
  • Arbeitsaufgaben mitarbeiterfreundlich gestalten: Weil zwischen Präsentismus auf der einen und Arbeitsbelastung sowie Termin- und Zeitdruck auf der anderen Seite ein enger Zusammenhang besteht, sollten für die Aufgabenerfüllung immer genügend Ressourcen bereitgestellt werden.
  • Wertschätzende Führungskultur: Wie in einem Unternehmen mit Absenzen umgegangen wird, hat einen direkten Einfluss auf den Präsentismus. Nur wenn Fehlzeitengespräche gut vorbereitet und in einer vertrauensvollen Atmosphäre stattfinden, erfüllen sie auch ihren Zweck – nämlich, die Ursachen der Absenzen anzugehen und die Mitarbeitenden zu unterstützen. Sobald Absenzen sanktioniert werden, erhöht sich automatisch die Bereitschaft zum Präsentismus.
  • Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) aufbauen: Unterschiedliche Massnahmen lassen sich zu einem gesamtheitlichen Gesundheitsmanagement bündeln. Ein umfassendes BGM reicht von externer Mitarbeitenden- und Fachberatung, über Coaching und Training bis hin zu PreCare-Angeboten mit Präventionspaketen, Gesundheitstagen und Self-Care-Angeboten. Solche verhaltens- und verhältnisorientierten Massnahmen fördern die Gesundheit der Mitarbeitenden nachhaltig und wirken sich direkt auf Präsentismus aus.  

Fazit

Präsentismus ist ein weit verbreitetes Phänomen, dem Personalverantwortliche und Vorgesetzte noch zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Die Folgen zeigen sich bei den Mitarbeitenden selbst, aber auch auf betrieblicher Ebene. Um Präsentismus gezielt entgegenzuwirken, empfiehlt es sich, das Phänomen in den Kontext einer umfassenden Gesundheitsförderung zu stellen – und mit den Massnahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements anzugehen.

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