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Der Psychologische Vertrag: Gemachte Versprechungen erkennen und einhalten

Der Arbeitsvertrag regelt die explizite Austauschbeziehung zwischen Organisation und Individuum. Der «Psychologische Vertrag» umfasst hingegen alle vertraglichen Aspekte dieser Beziehung in der Wahrnehmung des Individuums, auch implizite oder vermeintliche Versprechen.

23.08.2022 Von: Patrick Hofstetter
Der Psychologische Vertrag

Der «Psychologische Vertrag» steht im Ruf, ein Konzept von hohem theoretischem Interesse und geringem praktischem Nutzen zu sein. Doch meine persönliche Erfahrung als Dozent widerspricht dem zweiten Punkt: Jahr für Jahr zeigen sich Führungskräfte im «CAS in Human Factors in Leadership» begeistert, wie hilfreich dieser Ansatz beim Verständnis der Arbeitsbeziehungen ihrer Mitarbeitenden ist. Arbeitsverträge halten zwar die gegenseitigen Verpflichtungen von Arbeitnehmerin und Arbeitgeberin formal fest. Dennoch wissen wir aus eigener Erfahrung, dass selbst Mitarbeitende mit vergleichbaren Voraussetzungen und identischen Verträgen massive Unterschiede in Zufriedenheit, Commitment oder Leistungsbereitschaft aufweisen können. Ein Schlüssel, dies besser zu verstehen, ist der Psychologische Vertrag nach Rousseau.1

Alle Mitarbeitenden pflegen – in der Regel unbewusst – ein mentales Modell ihrer Arbeitsbeziehung. Dieses Modell definiert den «Psychologischen Vertrag» des oder der Mitarbeitenden. Seine Erfüllung übt einen empirisch messbaren Einfluss auf zahlreiche arbeitsrelevante Kenngrössen aus. Das Verständnis dieses Modells hilft Führungskräften und Personalverantwortlichen, die Beziehung der Mitarbeitenden positiv zu beeinflussen und ihr eigenes Arbeitsverhältnis besser zu steuern. Dazu will ich zunächst die Kernaussagen des Psychologischen Vertrags aufzeigen. Danach erläutere ich den aktuellen Stand der Forschung, wonach drei unterschiedliche Vertragsebenen existieren. Schliesslich fasse ich die Erkenntnisse in Empfehlungen für Linie und HR zusammen.

Erfüllte und gebrochene Verträge

Erste Überlegungen zum Psychologischen Vertrag in den 1960er-Jahren gingen davon aus, dass die Zufriedenheit oder der Leistungswille von Mitarbeitenden dann hoch ist, wenn ein Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen besteht: Wer viel Lohn – oder Anerkennung – erhält, ist zufrieden und engagiert. Das wirkt auf den ersten Blick einleuchtend, doch zeigt die Forschung, dass dies in der Realität schlicht nicht zutrifft. Erst 1989 stiess die amerikanische Arbeitspsychologin Denise Rousseau auf die entscheidende Erkenntnis, die sich bald empirisch bestätigen liess: das Verhältnis von versprochenen und erhaltenen Anreizen seitens der Organisation in der Wahrnehmung des Individuums entscheidet über die Leistungsbereitschaft einer Mitarbeiterin oder die Zufriedenheit eines Mitarbeiters (siehe Abbildung).

Zwei Beispiele mögen das veranschaulichen: Eine Praktikantin kann selbst bei geringer Bezahlung sehr zufrieden und leistungsbereit sein, solange ihr nicht mehr Lohn versprochen wurde und die weiteren expliziten oder impliziten Versprechen wie etwa eine in Aussicht gestellte Verantwortung erfüllt sind. Ein junger Vater kann eher darüber hinwegsehen, dass seine Firma keine Pensumsreduktion ermöglicht, wenn ihm dies auch nicht versprochen oder angedeutet wurde.2

Anders sieht die Sache aus, wenn der Praktikantin im Inserat «kreative Gestaltungsräume » in Aussicht gestellt wurden, sie jedoch als unterbezahlte Sachbearbeiterin eingesetzt wird. Gleich verhält es sich mit dem jungen Vater, wenn sich seine Arbeitgeberin vorgängig als besonders familienfreundlich darstellt, ihm jedoch die Pensumsreduktion verwehrt: In beiden Fällen kann es zu einem Bruch des Psychologischen Vertrags kommen. Die Folgen davon sind in der Forschung3 bestens untersucht: Zufriedenheit und Commitment nehmen ab, unerwünschtes Verhalten am Arbeitsplatz und Kündigungsabsichten nehmen zu.

Die methodische Zweiteilung – welche Versprechen werden wahrgenommen, welche werden erfüllt – erlaubt weitere überraschende Erkenntnisse. So konnte ich 2016 in meiner Dissertation anhand von 2800 Kadermitarbeitenden4 aufzeigen, dass für die Leistungsbereitschaft nicht etwa die Höhe der erfüllten, sondern die Höhe der wahrgenommenen Versprechen relevant ist. Dies kommt einem Vertrauensvorschuss seitens der Mitarbeitenden gleich, die ihre Leistung im Austausch für die Versprechen der Organisation erbringen. Zufriedenheit und Loyalität erwachsen dann daraus, dass die Versprechen auch eingehalten werden.

Weniger erstaunlich, aber dennoch aufschlussreich ist der Fall übererfüllter Verträge: Wer gefühlt mehr erhält, als ihm versprochen wurde, der steigt nur noch mässig in den erwünschten Eigenschaften. Deshalb ist es besser, wenn die Organisation den übererfüllten Vertragsanteil in ihre Versprechen aufnimmt: Wer etwa seinen Mitarbeitenden grosse Freiräume bietet, soll dies auch sichtbar machen. So kann nicht nur die Zufriedenheit, sondern auch die Leistungsmotivation gesteigert werden.

Drei Vertragsebenen

Bereits 1989 hat Rousseau transaktionale und relationale Verträge unterschieden. Diese Typologie wurde in den kommenden Jahren vielfach bestätigt. Thompson und Bunderson haben 2003 einen dritten Aspekt vorgeschlagen, den ich unter Schweizer Verhältnissen nachweisen konnte und als ideationale Ebene5 bezeichne. Die drei Ebenen lassen sich sowohl nach Inhalten als auch nach der Stärke ihrer Wirkung unterscheiden und seien im Folgenden erläutert.

Mit der transaktionalen Ebene werden ökonomische Versprechen, das heisst handfeste, direkt messbare Aspekte, beschrieben. Neben den rein monetären Versprechen wie dem in Aussicht gestellten Lohn oder fringe benefits sind das Versprechen betreffend Arbeitszeit oder Weiterbildungsmöglichkeiten, aber auch in Bezug auf die konkrete Arbeitstätigkeit. In der Literatur wird dieser Ebene häufig eine kurzfristige, volatile Bindungswirkung zugeordnet.

Auf der relationalen Ebene kommen die sozio-emotionalen Versprechen ins Spiel, wobei die wahrgenommene Fürsorge der Arbeitgeberin, das Zugehörigkeitsgefühl oder die empfundene Wertschätzung Beispiele sind. Solche Aspekte sind naturgemäss schwieriger zu objektivieren; da es im Psychologischen Vertrag jedoch nur auf die Wahrnehmung der Mitarbeitenden ankommt, können diese Grössen zuverlässig über Umfragen erhoben und in ihrer Wirkung bestätigt werden. Tatsächlich ist etwa der Effekt der relationalen Vertragserfüllung auf die Zufriedenheit doppelt und auf die Kündigungsbereitschaft dreimal so hoch wie jener der transaktionalen Vertragserfüllung. In der Literatur wird dem relationalen Vertrag denn auch eine langfristige, stabile Wirkung nachgewiesen.

Die ideationale Ebene umfasst ideelle Aspekte der Arbeitsbeziehung. Diese Ebene ist klar von der relationalen Ebene zu trennen, auch wenn sie ähnlich schwer fassbar wirkt. Tatsächlich geht es hier aber nicht um Emotionen, sondern um Ideale: Bei der Ärztin mag dies die Patientengesundheit sein, beim Lehrer ein Bildungswert, beim Start-up die Nachhaltigkeit oder in der öffentlichen Verwaltung das Allgemeinwohl. Wer Mühe hat, zu verstehen, dass sich diese Ideale von sozio-emotionalen Aspekten unterscheiden, malt sich am besten Konstellationen aus, in denen nur der relationale oder nur der ideationale Vertrag erfüllt ist. Während die Unterscheidung mittlerweile empirisch erhärtet wurde, ist die Literatur betreffend Effektstärke noch rar. Für ein Schweizer Sample konnte ich zeigen, dass der Einfluss ideationaler Versprechen zwar schwächer als bei den anderen Vertragsebenen ausfällt, aber dennoch signifikant ist (siehe Abbildung).

Die Wechselwirkung der drei Vertragsebenen ist noch wenig untersucht. Relevant scheint jedoch die Erkenntnis, dass die Untererfüllung der einen Ebene nicht mit der Übererfüllung der anderen kompensiert werden kann. Wer etwa hohe Versprechen in Bezug auf flexible Arbeitszeiten oder die Lohnentwicklung wahrgenommen hat, wird entsprechende Enttäuschungen nicht durch überraschend hohe Wertschätzung oder besondere Sinnstiftung ersetzt sehen – und umgekehrt.

Der Psychologische Vertrag: Umsetzungsideen für Ihre Organisation

Wie können Sie nun als Führungskräfte oder Personalverantwortliche das Konzept des Psychologischen Vertrags im Alltag ihrer Organisation umsetzen?

  1. Finden Sie heraus, welche Versprechen Ihre Mitarbeitenden explizit oder implizit wahrnehmen. Dies können Sie sowohl im persönlichen Gespräch als auch online erheben. -> Damit entdecken Sie Unterschiede in der Wahrnehmung zwischen Mitarbeitenden und Management – Sie werden überrascht sein (und falls nicht, umso besser).
  2. Unterscheiden Sie, welche Versprechen Ihre Organisation bewusst erfüllen soll und welche Versprechen in Anbetracht von Ressourcen, Kultur, Personal oder Umfeld unrealistisch sind. -> Damit schärfen Sie die organisationale Identität Ihres Unternehmens.
  3. Treffen Sie Massnahmen, um die realistischen Versprechen auch dort zu erfüllen, wo dies in der Wahrnehmung der Mitarbeitenden noch nicht der Fall ist. -> Damit erhöhen Sie die Produktivität und Retention Ihrer Mitarbeitenden.
  4. Überführen Sie implizite Versprechen, die die Organisation einhalten kann, in explizite, um deren Wirkung zu verstärken. -> Damit verbessern Sie Ihr Arbeitgeberimage.
  5. Vermeiden Sie ungewollte Versprechen in der internen und externen Kommunikation. -> Damit erhöhen Sie die Authentizität Ihres Employer Brandings.6
  6. Bringen Sie in Erfahrung, welche Vertragsarten bei Ihren Mitarbeitenden vorherrschen, und vergleichen Sie dies mit der Unternehmenskultur. Erhöhen Sie den Fit durch geeignete HR-Prozesse. -> Damit tragen Sie nicht nur dazu bei, die passenden Mitarbeitenden zu gewinnen und zu behalten, sondern auch, sie passend zu planen, einzusetzen und weiterzuentwickeln.7

Der Psychologische Vertrag weist als Konzept eine gewisse Komplexität auf – darin mag seine seltene Anwendung in der Praxis begründet sein. Ein allzu einfacher Blick auf die Mitarbeitenden wird ihnen und ihren Bedürfnissen jedoch nicht gerecht. Der Psychologische Vertrag hilft uns, die Mitarbeitenden in ihrer Vielfalt und ihrer Vielschichtigkeit besser zu verstehen und die Rahmenbedingungen zu optimieren, um zufriedene, motivierte und leistungsfähige Mitarbeitende langfristig zu binden. Diese Aussicht ist Anlass genug, um sich mit einem seit 30 Jahren erforschten Konzept der Arbeits- und Organisationspsychologie auseinanderzusetzen.

 

Fussnoten:
1) Denise M. Rousseau (1989): Psychological and implied contracts in organizations. Employee Responsibilities and Rights Journal, 2(2), 121–139.

2) Hier besteht ein zentraler Unterschied zu Erwartungstheorien wie etwa der VIE-Theorie nach Vroom (1964).

3) Zhao et al. (2007) fassen in einer Meta-Analyse 101 empirische Studien zusammen, welche die Effekte bestätigen.

4) Frei erhältlich unter https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/128877/

5) In bewusster Abweichung zu den missverständlichen «ideologyinfused contracts» im Original.

6) Siehe dazu auch den Beitrag «Authentisches Employer Branding» im personalSCHWEIZ, März 2021.

7) Dies ist natürlich einfacher gesagt als getan. Im «CAS in Human Factors and Leadership» entwickeln wir jedoch entsprechende Prozesse im Rahmen von Case Studies.

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