Arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit: Ein Phänomen mit Breitenwirkung

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Ausgangslage
Immer öfter sehen sich Arbeitgeberinnen mit dem Phänomen der arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit konfrontiert. Charakteristisch für diese spezielle Form der Arbeitsunfähigkeit ist, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung nur an seinem konkreten Arbeitsplatz nicht erbringen kann. In einem anderen Umfeld oder bei einem anderen Arbeitgeber kann er typischerweise ohne Probleme seine Leistung erbringen und auch in seinem Privatleben (Haushalt, Hobbies und Freizeit) ist er durch das Leiden kaum eingeschränkt. Die Ursachen der arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit liegen häufig in psychischen Belastungen am Arbeitsplatz, beispielsweise Mobbingsituationen oder übermässigem Stress. Denkbar ist aber auch die allergische Reaktion eines Coiffeurs auf ein spezifisch im Salon verwendetes Produkt, welches eine rein arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit nach sich zieht.
Im Nachfolgenden wird aufgezeigt, worin die rechtlichen Folgen der arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit bestehen und wie ein Arbeitgeber mit derartigen Situationen umgehen kann.
«Reguläre» vs. arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit
Lohnfortzahlung und Sperrfristenschutz
Der Arbeitnehmer verfügt im Falle unverschuldeter Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit oder Unfall gegenüber der Arbeitgeberin grundsätzlich während einer bestimmten Zeit über einen Lohnfortzahlungsanspruch. Hat die Arbeitgeberin eine Krankentaggeldversicherung abgeschlossen, so kommt diese in der Regel für mindestens einen Teil der Lohnzahlungen auf.
Grundsätzlich darf einem Arbeitnehmer während einer unverschuldeten Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit oder Unfall während einem bestimmten Zeitraum nicht gekündigt werden. Die Dauer der Sperrfrist hängt dabei von der Anzahl Dienstjahren des Arbeitnehmers ab. Kündigt die Arbeitgeberin dennoch während der Sperrfrist, ist die Kündigung nichtig. Tritt die Arbeitsunfähigkeit nach erfolgter Kündigung, jedoch vor Ablauf der Kündigungsfrist ein, wird die Kündigungsfrist unterbrochen und erst nach Ende des Ablaufs der Sperrfrist fortgesetzt.
Die soeben geschilderten Konsequenzen gelten für durch Krankheit oder Unfall bedingte Arbeitsunfähigkeiten, die sich auf sämtliche Lebensbereiche eines Arbeitnehmers beziehen. Fälle also, wo ein Arbeitnehmer beispielsweise aufgrund einer Blinddarmoperation weder arbeiten noch seine Freizeit und ggf. auch keine Ferien geniessen kann. Bei einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit gelten die geschilderten Bestimmungen hingegen nicht absolut:
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Konsequenzen der arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit
Die Lohnfortzahlungspflicht der Arbeitgeberin besteht grundsätzlich auch bei einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit, obschon der Arbeitnehmer nur in Bezug auf seinen konkreten Arbeitsplatz nicht einsatzfähig ist. Denn entscheidend ist, dass der Arbeitnehmer an der Erbringung seiner vertragliche Arbeitstätigkeit aufgrund von persönlichen nicht von ihm zu verantwortenden Gründen verhindert ist.
Von grösserer Bedeutung ist die Auswirkung der arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit auf den Kündigungsschutz, insbesondere da auffallend oft arbeitsplatzbezogene Krankschreibungen mit einer kurz bevorstehenden oder bereits erfolgten Kündigung durch die Arbeitgeberin auftreten.
Der Zweck des Sperrfristenschutzes besteht darin, einen Arbeitnehmer in Zeiten, in welchen seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt vermindert sind, vor einem Stellenverlust zu schützen. Angewendet auf die rein arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit wird daher vertreten, dass hier kein Bedarf für den Sperrfristenschutz bestehe, schliesslich sei der Arbeitnehmer sofort und uneingeschränkt an einem neuen Arbeitsplatz einsetzbar. Während bei einer regulären Arbeitsunfähigkeit jeweils im Einzelfall abgewogen werden muss, ob ein arbeitsunfähiger Arbeitnehmer ferienfähig war bzw. ist, stellt sich diese Frage bei der arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit nicht: Die arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit steht dem Genuss von Ferien definitionsgemäss nicht entgegen.
Eine signifikante Neuerung in der rechtlichen Behandlung von arbeitsplatzbezogener Arbeitsunfähigkeit ergibt sich aus dem Urteil des Bundesgerichts 1C_595/2023 vom 26. März 2024. Das Bundesgericht entschied, dass der Sperrfristenschutz nach Art. 336c OR nicht anwendbar ist, wenn die Arbeitsunfähigkeit ausschliesslich auf den konkreten Arbeitsplatz beschränkt ist. Das bedeutet, dass ein Arbeitnehmer, der nur aufgrund von arbeitsplatzbezogenen Faktoren (wie etwa Mobbing oder Allergien, die mit einem bestimmten Arbeitsplatz verbunden sind) arbeitsunfähig ist, keinen Anspruch auf den Sperrfristenschutz hat. Diese Entscheidung stellt klar, dass der Schutz des Sperrfristenschutzes nur dann greift, wenn die Arbeitsunfähigkeit das gesamte Leben der betroffenen Person betrifft und nicht nur auf einen spezifischen Arbeitsplatz beschränkt ist.
Das Bundesgericht betonte, dass der Sperrfristenschutz dazu dient, Mitarbeitende in Zeiten zu schützen, in denen sie aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit keine neue Stelle suchen können. Ist die Arbeitsunfähigkeit jedoch rein arbeitsplatzbezogen, stellt sie kein Hindernis für die Besetzung eines neuen Arbeitsplatzes dar. In solchen Fällen ist eine Kündigung durch den Arbeitgeber auch während der Sperrfrist rechtens, da die betroffene Person an einem anderen Arbeitsplatz weiterhin arbeiten könnte.
Diese Rechtsprechung stellt eine bedeutende Klärung für Arbeitgeber dar, die oft mit der Frage konfrontiert sind, ob sie einem Mitarbeiter während einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit kündigen können. Zudem führt sie zu einer klareren Abgrenzung zwischen regulärer und arbeitsplatzbezogener Arbeitsunfähigkeit und beseitigt die bisherige Rechtsunsicherheit in diesem Bereich.
Beweisschwierigkeiten
In der Praxis ergeben sich oftmals Schwierigkeiten beim Nachweis einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit. Grundsätzlich muss das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache beweisen, wer aus ihr Rechte ableitet. Das ist bei der Arbeitsunfähigkeit der Arbeitnehmer. Ein Arbeitnehmer wird aber oftmals kein Interesse am Nachweis haben, dass die Arbeitsunfähigkeit rein arbeitsplatzbezogen ist – zumal dies insbesondere seinen Kündigungsschutz einschränken könnte. Folglich obliegt der Beweis der Arbeitsplatzbezogenheit der Arbeitsunfähigkeit typischerweise der Arbeitgeberin – welche hierbei in der Regel auf ein entsprechendes ärztliches Attest angewiesen sein wird.
Hat eine Arbeitgeberin objektive und begründete Zweifel an der Richtigkeit eines Arztzeugnisses, so kann sie eine vertrauensärztliche Zweituntersuchung verlangen, welche sich konkret dazu äussert, ob die Arbeitsunfähigkeit nur arbeitsplatzbezogen ist oder nicht. Wird im Rahmen dieser Untersuchung eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit festgestellt, so steht es der arbeitnehmenden Person frei, diese Einschätzung zu bestreiten und ein gegenteiliges ärztliches Gutachten einzureichen
Pflichten und Fallstricke für Arbeitgeberinnen
Wie einleitend erwähnt, liegen einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit regelmässig persönliche Konflikte im Team oder mit Vorgesetzten zugrunde.
Es ist Teil der Fürsorgepflicht einer Arbeitgeberin, bei psychisch belastenden Situationen am Arbeitsplatz einzuschreiten und die Arbeitnehmenden zu schützen. Unterlässt eine Arbeitgeberin den Versuch die zwischenmenschlichen Probleme im Team zu lösen und geeignete Massnahmen zu ergreifen, so stellt dies in der Regel eine Verletzung der Fürsorgepflicht dar. Im Rahmen der Wahrnehmung dieser Fürsorgepflicht kann beispielsweise folgendes geboten sein:
Andere Tätigkeit oder alternativer Arbeitsplatz
Insbesondere in Mobbingkonstellationen kann ein alternativer Arbeitsplatz, bzw. eine alternierende Home-Office Tätigkeit für die involvierten Arbeitnehmenden, die Situation entspannen.
Aufgrund des Weisungsrechts ist eine Arbeitgeberin sodann auch dazu befugt, einem Arbeitnehmer ggf. andere Arbeiten zuzuweisen. Dabei findet das Weisungsrecht seine Schranken in den konkreten vertraglichen Vereinbarungen. Ein Systemadministrator dürfte zum Beispiel nicht mittels Weisung im Verkauf eingesetzt werden. Der Arbeitnehmer ist aufgrund seiner Treuepflicht prinzipiell dazu angehalten, die Arbeit an einem anderen zumutbaren Arbeitsplatz anzunehmen, sofern diese Beschäftigung der Genesung nicht entgegenwirkt. Grundsätzlich darf die Zuweisung anderer Arbeiten nur von vorübergehender Dauer sein und das Privatleben des Arbeitnehmers nicht übermässig beinträchtigen (bspw. ungünstigere Arbeitszeiten, längerer Arbeitsweg).
Anlaufstelle schaffen
Präventiv sollten im Betrieb Strukturen geschaffen werden, welche übermässigem Stress, Mobbing oder sonstigen Konflikten im Team vorbeugen. Die Tatsache, dass die Mitarbeiter von den entsprechenden Anlaufstellen wissen, sollte dokumentiert werden (bspw. durch Unterzeichnung des entsprechenden Reglements).
Ferienbezug und Kompensation von Mehrarbeit
Zumal es das Ferien- und ggf. Mehrarbeitskonto des Arbeitnehmers reduziert, ist es für die Arbeitgeberin in der Regel sinnvoll, den Arbeitnehmer anzuweisen, während der rein arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit Ferienguthaben, und sofern vorhanden, Mehrarbeit zu kompensieren.
Anweisung Stellensuche
Zeichnet sich nach Durchführung der unter der Fürsorgepflicht objektiv notwendigen Schritte ab, dass ein Ende der arbeitsplatzbedingten Arbeitsunfähigkeit nicht absehbar ist, kann der Arbeitnehmer angewiesen werden, eine neue Stelle zu suchen.
Kündigungsrisiken
Im Falle einer Kündigung im Zusammenhang mit einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit ist nun höchstrichterlich geklärt, dass der Sperrfristenschutz gemäss Art. 336c OR dann nicht zur Anwendung gelangt, wenn die Arbeitsunfähigkeit ausschliesslich auf den konkreten Arbeitsplatz beschränkt ist. Arbeitgebende sollten sich jedoch weiterhin vergewissern, dass alle notwendigen Schritte im Rahmen der Fürsorgepflicht unternommen wurden, um dem Risiko einer missbräuchlichen Kündigung entgegenzuwirken.
Erkrankt ein Arbeitnehmer infolge einer psychischen Belastungssituation am Arbeitsplatz, gegen welche die Arbeitgeberin nichts unternommen hat, so kann eine Kündigung mit dem Hinweis, die Arbeitsunfähigkeit sei lediglich arbeitsplatzbezogen, missbräuchlich sein. Im Falle einer missbräuchlichen Kündigung besteht Anspruch auf eine Entschädigung von bis zu sechs Monatsgehältern.