Betreuungsurlaub: Neue Regelung zum Betreuungsurlaub

Die Betreuung und Pflege von gesundheitlich beeinträchtigten Angehörigen wird in der Regel von Familienmitgliedern erbracht. Sind die Familienmitglieder erwerbstätig, kann die Vereinbarkeit von Betreuung und Berufstätigkeit Schwierigkeiten mit sich bringen. Wie sich der am 1. Januar 2021 in Kraft getretene Kurzurlaub für die Betreuung von kranken Familienangehörigen in der Praxis auswirkt, soll nachstehend aufgezeigt werden.

13.06.2023 Von: Kaspar Schudel
Betreuungsurlaub

Frühere Regelung zum Betreuungsurlaub

Werden Familienangehörige von erwerbstätigen Personen krank und bedürfen Betreuung, kann dies einen Einfluss auf das Arbeitsverhältnis haben. Vor dem Inkrafttreten der Bestimmungen zum Betreuungsurlaub war lediglich im Arbeitsgesetz ein Kurzurlaub für die Pflege von kranken Kindern von bis zu drei Tagen vorgesehen (Art. 36 Abs. 3 ArG). Die Betreuung anderer pflegebedürftiger Familienmitglieder oder nahestehender Personen war nicht erwähnt.

Da es sich bei der Pflege von kranken Kindern um eine gesetzliche Pflicht der Eltern handelt, bestand für Arbeitsverhältnisse, die dem Zivilrecht unterstehen, in solchen Fällen ein Anspruch auf Lohnfortzahlung und gegebenenfalls auf eine längere Arbeitsbefreiung gestützt auf Art. 324a OR. In zeitlicher Hinsicht bestand die Lohnfortzahlung nur solange, bis eine adäquate Ersatzlösung gefunden werden konnte und nur während einer begrenzten Zeit pro Jahr. Vielfach bestanden aber bereits auf Betriebsebene oder in einem GAV bessere und weitergehende Regeln für die Arbeitnehmenden. In öffentlich-rechtlichen Anstellungsverhältnissen bei Gemeinden, Kantonen oder öffentlichen Institutionen galten ebenfalls teilweise bessere Bedingungen. Der nachstehende Artikel bezieht sich auf den Betreuungsurlaub im Privatrecht.

Regelung seit dem 1. Januar 2021

Seit dem 1. Januar 2021 haben Arbeitnehmende Anspruch auf Arbeitsbefreiung und Lohnfortzahlung für die Betreuung von gesundheitlich beeinträchtigten Familienmitgliedern oder der Lebenspartnerin/des Lebenspartners und nicht mehr nur für die notwendige Betreuung von kranken Kindern (Art. 329h OR und Art. 36 Abs. 3 und 4 ArG). Durch Art. 329h OR besteht ein Anspruch auf bezahlten Betreuungsurlaub, unabhängig von der Lohnfortzahlungspflicht bei Unfall oder Krankheit gemäss nach Art. 324a OR.

Exkurs: Seit dem 1. Juli 2021 haben Arbeitnehmende, die Eltern eines wegen Krankheit oder Unfall gesundheitlich schwer beeinträchtigten Kindes sind, gemeinsam auch Anspruch auf Betreuungsurlaub von bis zu 14 Wochen pro Krankheitsfall oder Unfall, der durch die Erwerbsersatzordnung entschädigt wird (Art. 329i OR und Art. 16n ff. EOG). Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich nicht auf diese Sachverhalte, sondern auf Aspekte und Fragen betreffend den Kurzurlaub für Betreuung von Familienangehörigen gemäss Art. 329h OR.

Familienmitglied

Es besteht ein Anspruch auf Betreuungsurlaub, wenn Familienmitglieder oder die Lebenspartnerin/der Lebenspartner gesundheitlich beeinträchtigt sind. Bei den Familienmitgliedern handelt es sich um die Verwandten in auf- und absteigender Linie, also um die Eltern, Grosseltern, Kinder und um die Geschwister. Hinzu kommen die Ehegattin beziehungsweise der Ehegatte, die eingetragene Partnerin beziehungsweise der eingetragene Partner, die Schwiegereltern sowie die Lebenspartnerin oder der Lebenspartner, die oder der mit dem Arbeitnehmer oder der Arbeitnehmerin seit mindestens fünf Jahren in einem gemeinsamen Haushalt lebt.

Hinweis: Abwesenheiten zur Unterstützung kranker Familienmitglieder, für die Art. 329h keine Betreuungsurlaub vorsieht, können weiterhin als ausserordentliche Freizeit («übliche freie Stunden und Tage») gemäss Artikel 329 Abs. 3 OR gelten. Jedoch ist diese ausserordentliche Freizeit für kurzfristige Arbeitsbefreiung gedacht und eine Lohnfortzahlung während der Abwesenheit erfolgt nur, wenn diese im Arbeitsvertrag verabredet oder im Betrieb üblich ist.

Gesundheitliche Beeinträchtigung

Voraussetzung für den Anspruch ist eine gesundheitliche Beeinträchtigung. Dieser Begriff ist weit auszulegen und umfasst neben einer Krankheit oder einem Unfall auch eine Behinderung.

Notwendigkeit und Betreuungsbedarf

Die Betreuung des kranken Familienmitglieds muss notwendig sein. Die Notwendigkeit einer Betreuung hängt unter anderem davon ab, ob andere Personen die Betreuung übernehmen könnten. In Frage können dafür auch andere Familienmitglieder kommen, die verfügbar sind und für die ein Einspringen bei der Betreuung möglich und zumutbar ist (z.B. da sie in der Nähe wohnen).

Der Betreuungsbedarf einer Person ist ebenfalls ein Kriterium für die Notwendigkeit. Bei Kindern ist das Ausmass des Betreuungsbedarfs neben der Schwere der gesundheitlichen Beeinträchtigung wesentlich vom Alter des Kindes abhängig. Als Faustregel gilt: «desto jünger das Kind, desto höher ein Betreuungsbedarf». Bei erwachsenen Familienangehörigen hingegen ist ein Betreuungsbedarf eher anzunehmen, je schwerer die gesundheitliche Beeinträchtigung ist.

Dauer

Die Dauer des Urlaubs ist auf die für die Betreuung erforderliche Dauer begrenzt und beträgt höchstens drei Tage pro Ereignis. Der Urlaubsanspruch gilt somit einmalig pro Beeinträchtigung und auch bei längeren Erkrankungen nicht in wiederholender Weise. Zudem können innerhalb eines Dienstjahres maximal zehn Tage (bezahlten) Urlaub für die Betreuung kranker Familienangehöriger bezogen werden. Das heisst, eine Person kann während eines Dienstjahres mehrere kranke Angehörige betreuen, sofern die Voraussetzungen erfüllt sind und alle Abwesenheiten zusammen nicht mehr als zehn Tage ergeben.

Beispiel: Ein Arbeitnehmer kümmert sich innerhalb eines Dienstjahres für zwei Tage um sein krankes Kind, für einen Tag um seine Mutter, für drei Tage um seinen Bruder und um zwei Tage um seine Lebenspartnerin, mit der er seit über fünf Jahren im selben Haushalt lebt. Sollte nun der Vater des Arbeitnehmers krank werden und Betreuung benötigen, so bleiben dem Arbeitnehmer gestützt auf Art. 329h OR für das laufende Dienstjahr noch zwei Tage bezahlter Betreuungsurlaub.

Zu beachten ist, dass die Obergrenze von zehn Tagen nicht für die Betreuung von gesundheitlich beeinträchtigten Kindern, sondern nur für die Betreuung der anderen Familienmitglieder, gilt (Art. 36 Abs. 4 ArG).

Arztzeugnis?

In Art. 329h OR wird die Vorlage eines Arztzeugnisses zwar nicht ausdrücklich erwähnt und jedes Beweismittel kann verwendet werden, um den Urlaubsanspruch zu begründen. Die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer muss jedoch Angaben zur gesundheitlichen Beeinträchtigung des Familienmitglieds sowie zum Betreuungsbedarf machen, damit die Arbeitgeberin prüfen kann, ob die Betreuung des kranken Familienmitglieds notwendig und Lohnfortzahlung geschuldet ist. Es empfiehlt sich, von den Arbeitnehmenden jeweils ein Arztzeugnis betreffend die gesundheitliche Beeinträchtigung des Familienmitglieds zu verlangen.

Übersicht der Regelung zum Betreuungsurlaub

Seit dem 1. Januar 2021 besteht somit eine gesetzliche Grundlage für Arbeitsbefreiung und Lohnfortzahlung bei der Betreuung von gesundheitlich beeinträchtigten Familienmitgliedern:

 

Arbeitnehmer/in

Art. 329h OR und Art. 36 Abs. 4 ArG

Arbeitsbefreiung

Lohnfortzahlung

AN mit krankem Kind

Max. 3 Arbeitstage pro Ereignis, keine Obergrenze von 10 Tagen!

Max. 3 Arbeitstage pro Ereignis, max. 10 Tage pro Jahr (Lohnfortzahlung gemäss Art. 324a OR gilt aber parallel)

AN mit krankem/r Ehepartner/in oder eingetragenem/r Partner/in

Max. 3 Arbeitstage pro Ereignis, max. 10 Tage pro Jahr

Max. 3 Arbeitstage pro Ereignis, max. 10 Tage pro Jahr

Lebenspartner/in

Max. 3 Arbeitstage pro Ereignis, max. 10 Tage pro Jahr

Max. 3 Arbeitstage pro Ereignis, max. 10 Tage pro Jahr

Andere Familienmitglieder

Max. 3 Arbeitstage pro Ereignis, max. 10 Tage pro Jahr

Max. 3 Arbeitstage pro Ereignis, max. 10 Tage pro Jahr

Quelle: Botschaft des Bundesrates zum Bundesgesetz über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung (19.027), BBl 2019, S. 4133.

Die Regelung ist grosszügiger als das frühere Recht, da es den Arbeitnehmenden einen Anspruch auf Arbeitsbefreiung und Lohnfortzahlung bei der Betreuung der kranken Lebenspartnerin bzw. des Lebenspartners sowie der Eltern, Geschwister, Schwiegereltern etc. gibt.

Verhältnis zu Art. 324a OR

Art. 329h OR schafft eine eigenständige Anspruchsgrundlage für eine Lohnfortzahlung bei Betreuung kranker Angehöriger und hat keine Auswirkungen auf den Lohnfortzahlungsanspruch nach Art.324a OR.

Da die jährliche Obergrenze von zehn Tagen bei der Betreuung kranker Kinder nicht gilt (Art. 36 Abs. 4 ArG), kommt der Regelung in Art. 329h OR in Bezug auf die Lohnfortzahlung bei der Betreuung von kranken Kindern in der Regel wenig praktische Bedeutung zu. Die Lohnfortzahlung bei Betreuung kranker Kinder kann wahlweise nach Art. 329h OR oder nach den gesetzlichen Regeln der Lohnfortzahlung (Art. 324a OR) erfolgen. Üblicherweise wird die Betreuung kranker Kinder wie bisher über Art. 324a OR abgegolten werden, was zur Folge hat, dass die in Art. 329h OR vorgesehenen zehn Tage nicht angebraucht werden. Es ist aber auch möglich, dass die Lohnfortzahlung über Art. 329h OR erfolgt, insbesondere wenn das jährliche Lohnfortzahlungsguthaben gemäss Art. 324a OR bereits aufgebraucht ist.

Beispiel (Fortsetzung): Der Betreuungsurlaub von zwei Tagen, den der Arbeitnehmer für die Betreuung seines Kindes bezog, wird über Art. 324a OR abgegolten und belastet das in Art. 329h OR vorgesehenen Guthaben von 10 Tagen nicht. Für die Betreuung der Familienmitglieder hat der Arbeitnehmer somit nur sechs Tage (einen Tag für die Mutter, drei Tage für den Bruder und zwei Tage für die Lebenspartnerin) des Guthabens gemäss Art. 329h OR verwendet. Benötigt nun das zweite Kind des Arbeitnehmers Betreuung von acht Tagen, ist unabhängig von Art. 329h OR ein bezahlter Betreuungsurlaub gestützt auf Art. 324a OR möglich, solange eine entsprechende Lohnfortzahlungspflicht besteht.

Für die Arbeitgeber ist es ratsam, die Abwesenheiten der Mitarbeitenden aufgrund Betreuung von Familienangehörigen zu erfassen und auf die Einhaltung der Obergrenze von zehn Tagen pro Dienstjahr zu achten. Bei der Betreuung von Kindern sollte zusätzlich darauf geachtet werden, ob die Betreuung das Guthaben von Art. 329h OR belastet, oder ob die Betreuung durch die Lohnfortzahlung von Art. 324a OR abgegolten wird.

Einzelfragen und Empfehlungen

  • Besteht ein Anspruch auf Urlaub für die Betreuung von Familienangehörigen, so hat die Arbeitgeberin Lohnfortzahlung zu leisten. Die Lohnfortzahlung ist im Umfang des vollen Lohns geschuldet. Im Gegensatz zur Betreuungsentschädigung für gesundheitlich schwer beeinträchtigter Kinder (Art. 329i OR) besteht für Kurzurlaub für Betreuung von Familienangehörigen keine Entschädigung durch die Erwerbsersatzordnung.
  • Müssen nun die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber die Arbeitsverträge und allfällige Reglemente anpassen? Grundsätzlich gelten die Regelungen auch ohne explizite Regelung im Arbeitsvertrag und von ihnen darf nicht zu Ungunsten der Arbeitnehmenden abgewichen werden (Art. 362 OR). Somit ist eine Anpassung der Arbeitsverträge zwar nicht nötig, aber zu Klärung- und Informationszwecken empfehlenswert. Es ist zudem möglich, auf freiwilliger Basis weitergehende und für die Arbeitnehmenden günstigere Regelungen im Arbeitsvertrag vorzusehen.
  • Wie ist vorzugehen, wenn die Betreuung von Familienmitgliedern nur stundenweise erfolgt, zum Beispiel für das Begleiten bei einem Arztbesuch? In diesen Fällen dürfte es sich wohl nicht um einen Fall des Betreuungsurlaubs, sondern weiterhin um übliche freie Stunden und Tage gemäss Artikel 329 Abs. 3 OR, handeln, die nur dann entschädigt werden, wenn dies vereinbart oder (wie bei im Monatslohn angestellten Mitarbeitenden) betriebsüblich ist.
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